quelle: actforfree.noblogs.org, übersetzung abc wien
Angesichts dessen, was wir als direkte Anfragen an uns sehen, entstand die Notwendigkeit, diesen Text zu schreiben, um die Probleme zu verdeutlichen.
Wie wir bereits mehrfach sowohl individuell als auch kollektiv geschrieben haben, verstehen wir Anarchie nicht als eine Verkörperung oder einen Ort der Ankunft, sondern als eine Spannung, eine ständige Konfrontation in der ersten Person, die die Suche nach individueller Freiheit in den Mittelpunkt stellt. Für uns ist dieser ständige Kampf real, weshalb wir uns heute hinter Gittern befinden. Diese Situation hat uns nicht daran gehindert, uns weiterhin an Kampfinitiativen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gefängnisses zu beteiligen.
Kurz gesagt, Anarchie ist für uns eine Ethik und eine ständige Praxis gegen die Autorität, eine Praxis, in der wir uns mit anderen (nicht notwendigerweise „Anarchist*innen“) getroffen haben und unsere Visionen und Fähigkeiten bereichert und erweitert haben, sowie enge Beziehungen der Komplizenschaft geschmiedet haben, die im Laufe der Jahre und der Konfrontation verstärkt wurden. Die Behauptung, dass diese Beziehungen nur mit denjenigen aufgebaut werden können, die als „Anarchist*innen“ bezeichnet werden, ist nicht nur ein Trugschluss, der nur von denen geglaubt werden kann, die es nicht gewagt haben, die Wege des Konflikts zu beschreiten und ihre Zeit vor dem Computer verbringen, sondern etwas, das wir von dem Moment an ablehnen, in dem wir das Knüpfen von Verbindungen dem Wiederholen von leeren Slogans vorziehen, bis man genug davon hat. Sich selbst als „unzerlegbare Anarchist*innen“ zu bezeichnen, bedeutet nichts, wenn es nicht von einer konfrontativen Praxis begleitet wird, die es aufrechterhält.
Andererseits – und das ist das Wichtigste – spiegelt die Annahme, dass Anarchist*innen nur mit Anarchist*innen in Beziehung treten sollten, einen absurden Purismus und ein Sektierer*innentum wider, das zweifelsohne Ausdruck von Autoritarismus ist. Koordinierungen und gemeinsame Kampfinitiativen nur zwischen denjenigen zu etablieren, die sich selbst als „Anarchist*innen“ bezeichnen, bedeutet, unsere Beziehungen und damit unsere Chancen auf Wachstum stark einzuschränken und zu begrenzen. Es bedeutet, sich dummerweise in Dogmatismen einzuschließen, die uns einschränken und uns an einer freien Assoziation hindern. Wir sehen also, wie einige im Namen der Freiheit genau das Gegenteil anstreben, indem sie Sektenverhalten als Grundlage für Beziehungen festlegen.
Damit wollen wir nicht sagen, dass wir wahllos Beziehungen aufbauen oder keine Art von Filter haben.
Wir haben die Punkte, die für uns unumstößlich sind, in früheren Kommuniqués deutlich gemacht; Reue, Distanzierung und Institutionalismus entsprechen einigen roten Linien, die unüberwindbare Aspekte darstellen, die uns daran hindern, irgendeine gemeinsame Initiative mit denen durchzuführen, die sich für solche Wege entscheiden. Wie man sieht, handelt es sich bei diesen Punkten nicht um leere Etiketten, sondern um konkrete Praktiken und Lebensweisen im Gefängnis und nicht nur hier. Reue, Distanzierung und Institutionalismus sind Optionen, die für uns auf einen Schlag unseren gesamten Diskurs und unsere Arbeit zerstören und einen totalen Widerspruch zwischen dem, was gesagt und dem, was getan wird, erzeugen. Nun, für manche ist vielleicht nur das, was im Internet oder in den sozialen Netzwerken gesagt wird oder die aufrührerischen Erklärungen wertvoll oder wichtig. Im Gegenteil, wir stellen die Praxis in den Vordergrund und stellen von dort aus Affinitäten und Brüche her.
Und autoritäre Praktiken sind sicherlich ein Punkt, bei dem wir keine Kompromisse eingehen werden. Wir haben nie kämpferische Beziehungen auf der Grundlage von Autoritarismus aufgebaut, und die Erfahrung der anarchistischen und subversiven Gefangenen ist keine Ausnahme. Die Gemeinsamkeiten, die wir untereinander haben, sind viel stärker als die Diskrepanzen, die wir vielleicht haben, Diskrepanzen, die natürlich keine unüberwindbaren Aspekte darstellen, sonst hätten wir uns von Anfang an aus dieser Initiative zurückgezogen. Die Bande, die uns mit unseren Gefährt*innen verbinden, sind in der Konfrontation innerhalb und außerhalb des Gefängnisses mehr als ein Jahrzehnt lang geschmiedet worden, was für uns eine bereichernde Beziehung und Erfahrung bedeutet hat, die unseren anarchistischen Weg zweifellos genährt, gestärkt und qualifiziert hat.
Heute, in dieser neuen Situation der Gefangenschaft, haben wir unsere Beziehungen noch weiter verstärkt, was sich in dieser gemeinsamen Initiative widerspiegelt, die zwar nicht neu ist, aber im letzten Jahr wichtige Mobilisierungen erfahren hat, die es uns ermöglichen, interessante Szenarien zu entwickeln.
Wie wir in dem Artikel „Über die Notwendigkeit, den Kampf im Gefängnis fortzusetzen“ in der Zeitschrift Kalinov MOST 4 bekräftigen, haben wir anarchistischen Gefangenen mit bestimmten Codes innerhalb der Gefängnisse gebrochen, die von den Mitgliedern der bewaffneten linken Gruppen aus den 80er Jahren eingeführt und weitergegeben wurden, Codes, die hauptsächlich mit der Reproduktion der organisch-parteilichen (organic-partisan) Logik innerhalb des Gefängnisses und auch mit der Etablierung eines Überlegenheitsverhältnisses gegenüber dem Rest der Gefängnisinsassen zu tun hatten.
Es versteht sich von selbst, dass unsere Gefährt*innen weit entfernt von und gegen diese Codes sind – in der komplexen Praxis innerhalb des Gefängnisses, nicht in dem bequemen Diskurs, der von irgendeinem Zimmer mit Internetanschluss aus geführt wird. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, subversive Codes am Leben zu erhalten, mit denen wir uns identifizieren und die wir als unverzichtbar erachten, um sie zu übernehmen und zu reproduzieren.
Wir beziehen uns auf eine widerspenstige Haltung und Einstellung gegenüber der Gefängnisinstitution, die eine besondere Identität verleiht, die sowohl von den sozialen Gefangenen als auch von den Gefängniswärter*innen wahrgenommen und Anerkennung findet.
Wir verweisen auch auf die unbestreitbare Tatsache, den Kampf innerhalb des Gefängnisses fortzusetzen, um in der Praxis zu zeigen, dass mit der Inhaftierung nichts zu Ende ist, dass es sich nur um eine weitere Etappe des Kampfes handelt, die mit der Opferrolle und dem Assistenzialismus[1] bricht, die oft im Kampf für die Freiheit der Gefangenen vorhanden sind.
Seit Jahrzehnten haben die Gefährt*innen eine Anti-Knast-Praxis entwickelt und durchgeführt, die über die Mauern hinausgeht, an denen wir auf der Straße beteiligt waren und heute im Gefängnis sind. Dies sind nur einige der subversiven Codes, die wir mit unseren Gefährt*innen teilen, die unsere Bande der Verbundenheit in unserer täglichen Arbeit stärken und uns von jenen distanzieren, die, auch wenn sie sich Anarchist*innen nennen, Wege wählen, die weit vom Kampf entfernt sind oder sich völlig von ihm distanzieren. Was sagen die Purist*innen über jene, die sich „Anarchist*innen“ nennen und sich völlig von ihren Ideen und Praktiken distanzieren, wenn sie vor Gericht stehen oder im Gefängnis sitzen? Vielleicht fühlen sie sich mehr mit ihnen verbunden, weil sie dem leeren Etikett den Vorzug geben. Auch hier gilt: Wir bauen Beziehungen auf der Grundlage gemeinsamer Praktiken auf, nicht auf der Grundlage von Worten oder aufrührerischen Beiträgen im Internet.
Schließlich sehen wir die Notwendigkeit, auf die Gefahr des Sektierertums oder des Purismus in unseren Räumen hinzuweisen, die – abgesehen von den oben erwähnten autoritären Beziehungen – zu selbstgefälligen Haltungen führen, die uns nur stagnieren lassen und die Konfrontation nicht vertiefen oder qualitativ verbessern.
Von unserer klaren anarchischen Position aus, die auf ständigem Konflikt und individueller Freiheit basiert, bauen wir Beziehungen und Koordinationen auf, die uns auf dem Weg zur totalen Befreiung stärken und befähigen werden.
Wie die inhaftierten Genossen der „Verschwörung der Feuerzellen“ vor einigen Jahren sagten: Solidarität mit den Anarchist*innen und reuelosen Gefangenen aller revolutionären Tendenzen!
HEUTE SAGEN WIR: Freiheit für die Gefährten: Pablo Bahamondes, Marcelo Villarroel, Juan Aliste, Juan Flores und Joaquín García.
Mónica Caballero Sepúlveda. C.p.f San Miguel.
Francisco Solar Domínguez. C.p. Rancagua.
[1] Mit Assistenzialismus im engeren Sinne bezeichnet man heute die karitative klassische Armenfürsorge. Im Wesentlichen liegt der Schwerpunkt darauf, armen Bevölkerungsgruppen, z. B. Straßenkindern, Essen, Kleidung, Medizin und Unterkunft zu geben.
Assistenzialismus im weiteren soziologischen Sinne ist eine Form des Tauschs von Vergünstigungen gegen politischen Konsens. Er weist zwei Aspekte auf: eine expansive Fürsorgepolitik des Staates und das lethargische Warten der regionalen Bevölkerung auf staatliche Hilfe.