[Gai Dao, Nr. 93] „Bin ich für dich (k)ein Mensch?“ – Solidarität für die Antipsychiatrie Bewegung!

Quelle: Gai Dao Nr. 93, September 2018

Als ich begann über und gegen Psychiatrien zu arbeiten, wurde ich schnell mit Desinteresse, Unverständnis bis zu Verweigerung über Diskussionen darüber konfrontiert. Psychiatrien gehören irgendwie zu einem System, welches in radikalen Kreisen kritisiert wird. Menschen wird ihre Freiheit entzogen, das könnte unter Umständen ja ungerechtfertigt sein! Die bestehenden Zustände können krank machen, klar. Was es allerdings bedeutet, als krank betrachtet zu werden im größeren Kontext mit Institutionen wie Psychiatrie, wird wenig besprochen. So weit, so oberflächlich. Ich fing an mich darüber zu wundern, warum andere Institutionen wie Gefängnisse einer klaren Kritik ausgesetzt sind, aber Psychiatrien meistens wie riesige Fichten im Wald der Zusammenhänge umgangen werden. Ich nahm an, dass die fehlende Auseinandersetzung und die zugegebenermaßen eingeschlafene radikale Bewegung das zu verantworten hätten. Im Laufe meiner Arbeit sollte sich allerdings herausstellen, dass die Problematik weitaus tiefer reicht.

Die Antipsychiatrie-Bewegung hatte ihre blühende Zeit in den 68er Jahren und formte verschiedene Gruppierungen, Verbände und Aktionen. So entstanden dutzende Schriften, von einfachen Aufrufen und Infoseiten bis hin zu komplexen Analysen, die von den Zuständen und intersektionalen Verstrickungen von Diskriminierungen in Psychiatrien handeln. Es gibt also genug Material, das auf die menschenverachtenden Zustände in Psychiatrien aufmerksam macht. Dennoch ist da diese Stille. Dennoch ist da dieses Räuspern, das ungeschickt versucht schnellst möglich das Thema zu wechseln. Früher war es kein Nischenthema, welches irgendwie in der emanzipatorischen Praxis in eine andere Lebensrealität geschoben werden konnte. Deutschland galt als eines der Zentren von Vordenker*innen der Antipsychiatrie, indem sich theoretische Arbeiten und scharfe Analysen zu Bewegungen entwickelten, die in der Praxis neue Arten des Zusammenlebens probierten und die Konsequenz aus dem Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft zogen – und radikale Schritte einleiteten.

Es wurden Zufluchtsstätten gegründet, Häuser besetzt und in größeren Zusammenhängen gedacht. Kritik am Psychiatriesystem gehörte in radikalen Kreisen, ob vorerst akademisch oder später ganz praktisch, zum guten Ton. Wo kommt also die äußerst unhöfliche und unsolidarische Stille her?

 

  1. Die soziale Hilfsorganisation – Es ist zu deinem Besten

Die Antipsychiatrie Bewegung muss sich als erstes oft einem Bild stellen, das ein verdammt zynisches Licht wirft: Psychiatrien sind nach diesem soziale Gesundheits- und Hilfsinstitutionen, die zwar gruselig und stigmatisiert sind, aber immerhin noch sozial. Die dazwischen geschobene Ebene des Sozialen macht es schwieriger, Missbrauch, Machtstrukturen und Menschenrechtsverletzungen klar sichtbar zu kritisieren.

„Die wollen Menschen da ja eigentlich nur helfen!“ ist ein fadenscheiniges Argument, denn es ignoriert das tatsächlich erzeugte Leid und die eigentlichen Mechanismen und normativen Vorlagen innerhalb von abgeschotteten Psychiatriesystemen. Die Psychiatrie, im Mantel einer sozialen Gesundheitsinstitution, wird so depolitisiert.

Also: Nur weil „Gesundheit“, „sozial“ und „Hilfe“ draufsteht, muss der Inhalt dem bei Weitem nicht entsprechen. Die sonst so kritische Linke scheint diesen einfachen Logikschritt mit großem Gefallen zu verweigern. Die Unschuld des Nichtwissens zieht hier nicht mehr. Das Wissen über die Zustände ist vorhanden und gut zugänglich, was also ist so unbequem an radikaler Psychiatriekritik, oder einer stabilen Solidarität mit der Antipsychiatrie Bewegung? Was steht auf der anderen Seite, dass dieser mehr geglaubt wird?

 

  1. Für mehr Unwissenschaftlichkeit!

Ein weiterer radikaler Schritt, der selbst in der Postmoderne vielen noch zu schmerzhaft zu sein scheint, ist das Hinterfragen von Wissenschaft. Es ist einfach, Menschen in eine Schublade zu stecken, wenn „wissenschaftliche Erkenntnisse“ dafür breite Trampelpfade liefern. Burnout, Borderline, Persönlichkeitsstörung: wir tun so, als ob diese abgegrenzten Diagnoseraster in ihrer Natürlichkeit schon immer bestanden und als Krankheitsbild zum menschlichen Sein gehören. Was ein Mensch ist und wie dieser sich zu verhalten hat, wurde über Jahrhunderte von Menschen durch Kultur und Sozialstrukturen entworfen. Die menschliche Erfahrung, oder das, was wir für einen gesunden Menschen halten, ist letztlich nur eins: ein Konstrukt. Schwere Zeiten und ver_rückte [1] Lebensabschnitte können auch ohne ein künstliches Krankheitsbild ernst genommen und aufgefangen werden.

Werfen wir einen Blick auf die Kämpfe von Trans Aktivist* innen, kristallisiert sich der Unterdrückungsgeist von wissenschaftlichen Konstrukten bitter heraus. Das zweigeschlechtliche System ist genauso konstruiert. Empörte Antifeminist*innen greifen rasch in ihre alte Schulmappe, um ihr Biologiebuch aus der 8. Klasse zu zücken: „Was, aber hier steht es doch schwarz auf weiß, es gibt nur zwei Geschlechter, bla bla bla.“ Unkritisch werden runtergebrochene und veraltete Erkenntnisse gegen reale Lebensrealitäten von tausenden Menschen gestellt. Das ist nicht nur absurd und ermüdend. Das unkritische Herunterlabern von Wahrheitsmonopolen derWissenschaft ist gefährlich.

Es ist notwendig darüber nachzudenken, von wem Normen geprägt werden und wer Wissenschaft dominiert. Diagnoseverfahren sind nicht abgekoppelt vom Rest der Welt, die wir erschaffen haben. Sie sind genauso sexistisch, rassistisch, homo- oder transfeindlich wie auch der Rest der Gesellschaft und die Personen, die sie durchführen. Was als ver_rückt galt oder heute gilt, ist daher an dominierende Vorstellungen der jeweiligen Zeit gebunden. Wissenschaft, oder das Benennen von Krankheit oder Abweichung kann auch als Unterdrückungswerkzeug genutzt werden: Es zieht sich durch die Menschheitsgeschichte, dass Menschen abseits der Norm, ob diese nun rebellierende Frauen, neurodiverse Personen, Homosexuelle oder Transpersonen sind, stetig von oben nach unten pathologisiert wurden. Pathologisierung bedeutet, dass Empfindungen, Bedürfnisse und Verhaltensweisen durch herrschende Normen als krankhaft definiert werden können. Pathologisierung ist daher ein wirklich ekliges Machtinstrument, was wir endlich und ganz final aus unserem Leben und vor allem unserer politischen Praxis streichen müssen.

 

  1. Konstrukt des Ver_rückten – was ist schon vernünftig?

Von Menschen in Psychiatrien wird ein hochgradig abstraktes Bild gezeichnet. Die einzigen Fälle über die gesprochen wird, sind Personen, die starke Verhaltensabweichungen zeigen. Dieses Bild des*der völlig verwahrlosten Ver_rückten stärkt dann das Argument des: „muss ja so“. Es wird verallgemeinert zu einem Menschen, der nur noch eine Idee von ursprünglicher Vernunft ist während sich andere Menschen aus Nächstenliebe dazu erbarmen ihm aus absoluter Hilfslosigkeit aufzuhelfen.

So einfach ist das nicht. In Psychiatrien leben Menschen, die Burnout, Essstörungen, Depressionen, psychotische Schübe und andere Arten von Neurodiversität diagnostiziert bekommen haben oder noch darauf warten, in eine mehr oder minder hilfreiche Schublade gesteckt zu werden. Abgesehen von dieser Verallgemeinerung wird das Bild nicht in Frage gestellt.

Es bringt aber zwei weitere Steine ins Rollen: durch Abwertung von Menschen, die der Norm nicht entsprechen, identifizieren sich Menschen nicht mit ihnen. Obwohl das eine wirklich miese Praxis ist, solidarisieren sie sich somit auch nicht. Ein weiterer Stein könnte die Solidarität weiter weg rollen lassen: Wenn ver_rückt sein so eine andere Lebensrealität ist, dann können sich Menschen nicht vorstellen, auch mal in die Situation zu kommen. Knäste liegen nur einen Steinwurf entfernt, wir tragen die Mauern in unseren Herzen, wir schreiben ganz reale Briefe zu unseren Freund*innen, die vor zwei Wochen noch Missetaten mit uns planten. Durch die Abstraktion von Menschen in Psychiatrien, findet diese Art der Identifikation und Solidarität oft nicht statt. Dabei liegen Psychiatrien in ähnlicherWeise viel näher als es uns lieb wäre. In Psychiatrien zu landen ist eigentlich ganz leicht, insbesondere wenn Personen Minderjährig sind.

Let‘s face it: dieWelt, in der wir gerade Leben, ist mehr als beschissen.

Es ist leicht unter Druck zusammenzubrechen, um dann schwere Zeiten und ver_rückte Phasen zu durchleben. Leistungsdruck, Diskriminierung, Repression: Personen hören auf zu funktionieren. Es gibt noch nicht viele coole Unterstützer*innengruppen, die dieses Leid gut auffangen können. Ob es nun deine Eltern waren, Cops dich aufgesammelt haben oder es erst mal deine fixe Idee war: da bist du nun. Reinkommen ist einfach, rauskommen manchmal nicht.

Bist du auch noch von mehr als den verhältnismäßig privilegierten Problemen betroffen, also von Sexismus, Ableismus, Rassismus, Armut und Homo- oder Transfeindlichkeit, befindet sich dein Name in mehrfacher Ausführung in dem Lostopf für eine Einweisung wie bei den f*cking Hungergames der mentalen Gesundheit. Menschen sind komplex, abstrakte Ver_rücktheitsbilder müssen abgebaut werden. Auch das Klischeebild eines Insassen ist nicht nur das, die Person ist ein Mensch. Wir verdienen es, gefragt zu werden, was wir für uns selbst für richtig halten. Wir verdienen es, vor Eingriffen geschützt zu werden. Wir verdienen ein Aushandeln auf Augenhöhe im Rahmen von Selbstbestimmung und Freiheit.

 

  1. Abstraktion – Mehr als nur kriminell und ver_rückt

Da Psychiatrien und die Systematik darum sich als totale Institution mit Gefängnissen vergleichen lassen, hilft ein Blick auf die anti-Knast Bewegung weiter. Kritik an Knästen ist in der Linken gut etabliert, von umfangreicher Solidarität dazu, dass kaum eine*r sich bewusst DAFÜR aussprechen würde. Auch wenn Parallelen erkennbar sind, unterscheiden sich beide in Umständen und Mechanismen in verschieden Aspekten. Wenn wir uns auf Gemeinsamkeiten konzentrieren, wird deutlich, dass die Debatte von einer Frage dominiert wird: Wohin mit dem vermeintlich ver_rückten?

„Na gut. Aber was machen wir dann mit denen?“ ist auch eine Frage, die Aktivist*innen der Anti-Knast Bewegung nach jedem Input an den Kopf geworfen wird. Neben Beispielen für gelebte transformative justice, transformierende Gerechtigkeit, hinterfragt die Anti-Knast Bewegung gezielt die Bilder einer kriminellen Person, welche per se als bösartig und gewalttätig gezeichnet wird. Kritiker*innen holen dann ihren eigenen Tuschekasten raus: das Strafsystem bestraft systematisch Marginalisierte und somit auch ökonomische Verlierer*innen des Kapitalismus und will sie so unter Kontrolle halten. Unter diesem Licht hat Straffälligkeit nichts mehr mit „böse sein“ zu tun. Das Kriminelle Subjekt, oder das abstrakte Böse muss in dieser Logik verworfen werden. Wird diese Frage allerdings in der Anti-Psychiatrie Debatte genannt, wird es wieder unheimlich still. Ver_rücktheit ist auch ein abstrakter und konstruierter Begriff. Nur ist dieser für viele immer noch zu glaubwürdig in der Verbindung mit einem vermeintlich sozialen Gesundheitsapparat, welcher ja nur helfen will. Die Abstraktion, die es akzeptierbar macht Menschen ihre Freiheit zu nehmen, wird einfach nicht weiter reflektiert. Ver_rückte werden keine Menschen, sie bleiben in der Idee weiter Ver_rückte.

Die Antipsychiatrie Bewegung muss daher schon im Ansatz weiter gehen, als nur eine Zwangsinstitution zu kritisieren. Wir müssen verstehen, welche gesellschaftlichen Normen andere Lebensentwürfe und Lebensrealitäten entwerten und warum diese dann mithilfe von Pathologisierung unterdrückt werden. Was als ver_rückt und daher krank gilt, ist eine gesellschaftliche Idee. Dieses Denken ist, da wir alle Teil davon sind, auch in uns verankert. Abweichungen dürfen und müssen ertragen werden. Solidarität kann nicht bei der Norm aufhören, sie muss allumfassend mit unterdrückten und stigmatisierten Menschen praktiziert werden. Geht sie nicht weiter, stumpft sie als Waffe für Freiheit und Menschenwürde ab.

 

Solidarität muss (praktisch) werden

Viele Überlebende von Psychiatrien beschreiben ihre Erfahrungen als entmenschlichend. Schon die Vordenker*innen der Antipsychiatrie Bewegung stellten fest, dass in Psychiatrien Menschen nicht mehr Personen sind, sondern zu Sachen herabgesetzt werden. Unsere Rechte und unsere Freiheit wird beschnitten, wir müssen uns tagtäglich Übergriffigkeiten aussetzen, wir bekommen Drogen verschrieben, welche Nebenwirkungen haben, die mit uns nicht einmal besprochen werden. Und der eigentlich größte Widerspruch: Uns wird oft nicht geholfen. Therapieangebote finden nicht statt, oder sie sind so normativ, dass es für viele an Gewalterfahrung grenzt – was bleibt, sind die Gitter vor den Fenstern, die die Gesellschaft vor uns schützen sollen (?).

Aber wer schützt uns vor der Gesellschaft? Wer schützt uns vor ihren gewaltvollen Normen? Wer schützt uns vor kapitalistischem Leistungsdruck und Diskriminierungserfahrungen? Wenn freiheitliche Menschenrechte nur noch als Schatten existent sind, passiert all das in Psychiatrien ungefiltert. Warum sieht die Mehrheitsgesellschaft weg und warum müssen wir um radikale Solidarität auch in linken Zusammenhängen beinahe betteln? Die Frage, die als Nachgeschmack pelzig auf unseren Zungen liegt: sind wir für euch keine Menschen?

 

Normalität(en) zerleben

Argumente für Psychiatrien laufen aus. Wir haben das schon immer so gedacht und demnach können andere Perspektiven nur falsch sein? Seht genauer hin, wer das „Wir“ ist. Wissenschaft muss in emanzipatorischer Praxis kritisch hinterfragt werden.

Psychiatrien wollen nur helfen? Fragt euch unter welchen Umständen und Zuständen soll wie geholfen werden, und ob reale Hilfe überhaupt stattfindet. Psychiatrien sind keine humanistischen Hilfsverbände, die Menschen altruistisch retten wollen. Wo sollen all die gefährlichen Ver_rückten hin? Nun, eine dieser Ver_rückten spricht gerade mit dir. Ganz frei, ganz zahm. Das einzig Gefährliche an mir ist mein gebrochenes Herz, das die Wut aufbrodeln lässt um nach mehr Solidarität zu verlangen. Normen müssen zerlebt werden, unsere Ver-_rücktheit wurde von Anderen bestimmt. Hört uns zu, wenn wir von der Gewalt sprechen, die wir in Psychiatrien erlebt haben. Fangt endlich an Formen von solidarischen Unterstützungsgruppen zu besprechen, um euch gegenseitig von staatlichen Eingriffen durch schwere Zeiten zu helfen. Gebt unseren Kämpfen Raum und Aufmerksamkeit. Wenn ich das nächste Mal „Knäste sollen brennen!“ rufe, will ich, dass ihr umso lauter antwortet: „Psychiatrien gleich dazu!“.

 

[1] Der mitgeschriebene Unterstrich in dem Wort ver_rückt möchte verdeutlichen, dass hinter dieser Bezeichnung oft Fremdbestimmung nach diskriminierenden gesellschaftlichen Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen steht, welche Menschen nach herrschenden Vorstellungen wieder „gerade rücken“wollen.

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