[Deutschland] Prozess, RAZ, RL, Radikal – Prozessberichte vom 19. und 20. Verhandlungstag

quelle: soligruppe für gefangene

Vorab, der angesetzte Termin vom 21.10. wurde aufgehoben, das heißt der nächste Prozesstermin ist am Donnerstag, den 28.10.2021.

Mit etwas Verspätung begann am 19.10. um 9:35 Uhr der 19. Verhandlungstag im Prozess gegen unseren Freund und Gefährten, wobei acht solidarische Beobachterinnen und Beobachter sowie ein Pressevertreter anwesend waren. Zu Beginn wurde vom vorsitzenden Richter festgestellt, dass die Richterschaft und Schöffen die Urkunden des Selbstleseverfahrens zur Kenntnis genommen und allen anderen Prozessbeteiligten dies ebenfalls möglich war.

Danach folgte eine ganze Reihe von Inaugenscheinnahmen und Verlesungen von Urkunden. Zunächst wurde eine Lichtbildmappe bezüglich des Anschlags auf das Jobcenter in Augenschein genommen, danach Fotos vom Bundeshaus und dann nochmal dieselben Fotos in besserer Qualität. Im Anschluss wurden der Reihe nach die Ausgaben 161 (Sommer 2009), 163 (Sommer 2010) und 164 (Sommer 2011) der Zeitschrift radikal in Augenschein genommen, wobei laut dem Gericht das Augenmerk auf das Schriftbild und die Bilder und Zeichen gerichtete werden sollte, dennoch ließen sich die Schöffen und Verteidiger Zeit beim Durchgehen der Zeitschriften, während der Staatsanwalt gelangweilt auf seinen Laptop starrte und den Anschein erweckte jeden Moment einzunicken.

Daraufhin verlas das Gericht die von KHK (Kriminalhauptkommissar) Buchholz verfasste Strafanzeige bezüglich des Brandanschlags auf das Bundeshaus vom 18.11.2010. Die Anzeige lautete auf schwere Brandstiftung, der Schaden wurde (vermutlich vorläufig) auf einen Euro festgesetzt. Dann wurde der Brandortbericht zur selben Sache, der auch vom selben Beamten verfasst worden war, verlesen und erneut Fotos dazu, zum Augenschein verteilt, teilweise dieselben wie schon zuvor.

Nun fragte das Gericht, ob es Bedenken gegen das Verlesen des Vermerks des KOK (Kriminaloberkommissar) Leibniz im Brandbericht zum Anschlag auf das Amtsgericht Wedding gebe. Nachdem weder Staatsanwalt noch Verteidigung etwas dagegen einzuwenden hatten, berief das Gericht eine dreiminütige Unterbrechung ein und verließ mit den Schöffen den Saal. Nach seiner Rückkehr gab das Gericht den Beschluss bekannt, dass der Vermerk des KOK Leibniz verlesen werden soll. Laut diesem Vermerk habe sich die Schadenssumme nach der Aussage des BIM (Berliner Immobilien Management) auf 28.919,85 Euro belaufen.

Fortgesetzt wurde mit der Verlesung des Asservatenverzeichnisses des BKA vom 22.05.2013, worin die bei der Durchsuchung bei Cem beschlagnahmten Gegenstände – mit Fundort und durchnummeriert – aufgelistet sind. Der Vollständigkeit halber hier die Gegenstände: eine externe Festplatte, ein Notebook HP, ein Laserdrucker HP, ein Scanner, eine Maus, ein Mobiltelefon, zwei USB-Sticks, ein Zettel mit einer Telefonnummer und Namen, ein Passwort, eine PIN-Nummer, ein Notizbuch mit Telefonnummern, fünf Zettel DIN-A5, ein Buch Shabnam Holliday: Defining Iran, ein Buch Karl Held: Das Lebenswerk des Michael Gorbatschow, ein Buch Walter Ulbricht: Zur Geschichte der Arbeiterbewegung, ein Buch Lenin: Über Krieg, Armee und Militärwissenschaft, ein Thinkpad, zwei Zettel DIN-A4, vier verpackte Tastaturen, eine verpackte Maus, ein Notebook von Dell. Dazu wurde noch ein Vermerk verlesen, dass eine Asservatennummer zweimal vergeben wurde und das Buch von Holliday deshalb ein neue Nummer zugewiesen bekommt.

Weiter ging es mit der Verlesung der zwei sichergestellten DIN-A4 Blätter, diese wurden im Anschluss auch in Augenschein genommen. Dabei soll es sich um Notizen handeln, in denen Überlegungen zu kurz-, mittel- und langfristiger Ziele, für den Aufbau proletarischer Autonomie, sowie der Bezug auf andere revolutionäre Bewegungen und Erfahrungen die es in der Vergangenheit gegeben hat, sowie in der Gegenwart präsent sind, niedergeschrieben wurden. Darin soll erwähnt worden sein, dass dies im Zusammenhang mit einer Postille – es wird kein Name erwähnt – überprüft werden soll, ob dies auch funktioniere. Danach wurden die fünf beschlagnahmten DIN-A5 Zettel in Augenschein genommen, wobei es sich um sechs Blätter handelte, da es auch eine Rückseite gab.

Das Gericht wies noch auf die Aufhebung des Termins am 21.10. und darauf, dass am 28.10. die Sachverständige für Handschriften erwartet wird sowie dass der Termin vom 16.11. auf den 17.11. verschoben wird, hin. Daraufhin endete der Prozesstag um, 10:40 Uhr.

Der nächste Prozesstermin ist am 28. Oktober um 09:00 Uhr am Landgericht Berlin, Turmstraße 91, Eingang Wilsnacker Str

 


Der 20. Verhandlungstag

Der 20. Verhandlungstag im Prozess gegen unseren Freund und Gefährten begann am 28.10.21 um 9:15 Uhr. Im Laufe des Tages waren sechs solidarische Menschen anwesend.

Geladen war die 64-jährige Sachverständige für Handschriften, die bereits zum 14. Prozesstag am 16. September vor Gericht erschienen war. Das Gericht teilte mit, dass inzwischen die Dokumentationsunterlagen eingetroffen seien, bestehend aus vier Konvoluten: zwei Listen, Vergleichsschriften und Befundmaterial. Die entsprechenden handschriftlichen Notizen und exemplarisch herausgenommenen Buchstaben wurden während der Vernehmung per Beamer auf eine Leinwand projiziert. Zunächst erläuterte die Sachverständige, dass ihre Aufgabe darin bestand, die Asservaten zu vergleichen und zwar einerseits dahingehend, ob sie sich untereinander gleichen, d.h. ob es sich um denselben Urheber handelt, und andererseits wurden sie mit handschriftlichen Notizen von Oliver Rast verglichen, wobei es vor allem um zwei Asservate ging, einmal linierte Blätter mit Namen und Telefonnummern sowie die Kopie eines zerrissenen Zettels.

Hierzu seien zunächst die Großbuchstaben und dann die Kleinbuchstaben miteinander verglichen worden, allerdings müsse man nicht immer zwingend in dieser Reihenfolge vorgehen. Auf dem Befundmaterial wurden die Buchstaben entsprechend nummeriert, es werde aber nicht jeder Befund erhoben, wie die Sachverständige auf Nachfrage des Richters mitteilte, für die Auswahl eben dieses einen konkreten A’s gebe es keinen Grund, sie seien sich alle ähnlich ohne große Unterschiede. Dann wurden unter Zuhilfenahme der Projektion auf der Leinwand von der Sachverständigen ausgewählte Buchstaben verglichen (A, K, P, k und E). Dabei wies sie auf Ähnlichkeiten hin, auch wenn es immer wieder Varianten gebe, an Kurrentschrift bzw. Druckschrift angelehnte. Wir erfuhren von K’s mit Mittelösen und solchen ohne, überwölbten Einleitungen beim P und solchen, die in einem Zug geschrieben wurden, sehr schöne k’s, die auch in einem Zug gefertigt waren usw. Zwischendurch wies sie auch noch darauf hin, dass die Gesamterfassung, also die verschiedenen Proportionen der Buchstaben (Ober- und Unterlängen), einen Hinweis auf eine Urheberidentität geben würde. Es folgten auf Nachfrage des Richters noch Anmerkungen zum allgemeinen Schriftbild, es sei in diesem Fall durch viele Winkelzüge gekennzeichnet und die Art und Weise wie Buchstaben verbunden werden, sei hier betrachtet worden. Auch bei den Buchstaben m, n, und u werde untersucht ob die Bögen eher rund oder winklig sind. Von hier aus gehe man dann auf die Einzelbuchstabenuntersuchung über. Bei dem untersuchten Material habe sich gezeigt, dass sowohl die Schriftlage als auch die Proportionen einheitlich seien, es gebe vielgliedrige Übereinstimmung und es weise eine „graphische Ergiebigkeit“ auf. Es gebe keine nicht erklärbaren Diskrepanzen und zahlreiche Übereinstimmungen, daraus ergebe sich die Schlussfolgerung, dass alle Schreibleistungen mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Hand stammen. Nachdem die Sachverständige diese Schlussfolgerung geäußert hatte, berief das Gericht eine zehnminütige Pause ein, um sich kurz zu beraten.

Nach der Pause fragte das Gericht die Sachverständige zur Wahrscheinlichkeit, die, wie bereits schon zuvor festgestellt wurde,in diesem Fall eine subjektive Wahrscheinlichkeit ist, welche Abstufungen es da gebe und wie diese zu verstehen seien. Das Ganze folge dem Bayesschen Ansatz1, so die Sachverständige, es gebe eine klare Methode, eine hypothesentestende Vorgehensweise, die Merkmalserhebung führe zu Folgerungen, die entsprechend kategorisiert werden: non liquet (bis zu 50%), leicht überwiegende Wahrscheinlichkeit (bis zu 75%), überwiegende Wahrscheinlichkeit (bis zu 90%), hohe Wahrscheinlichkeit (bis zu 95%), sehr hohe Wahrscheinlichkeit (bis zu 99%) , mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit (bis zu 99,99%). Die Zahlen seien aber nicht fest, sie dienen lediglich der Veranschaulichung. Wie häufig denn das Ergebnis einer sehr hohen oder noch höheren Wahrscheinlichkeit vorkomme, wollte das Gericht wissen. Die Sachverständige antwortete, dass dies schon vorkomme, dazu müsse aber das Ausgangsmaterial ideal sein, dasselbe Schreibmaterial etc. Nun wurde auf Anregung des Gerichts der Vergleich mit dem Handschriftenmaterial von Oliver Rast nachvollzogen, wobei die Sachverständige darauf hinwies, dass hier schon Unterschiede zu sehen seien, so seien die Proportionen anders und einzelne Buchstabenverbindungen seien auch nicht zu finden. Es wurden die P’s, die G’s und die E’s verglichen, die Sachverständige wies auf Unterschiede hin bis das Gericht zu dem Entschluss kam, dass dies nun genüge. Die Sachverständige gab noch einmal das Ergebnis des Gutachtens bekannt, bei dem fraglichen Material gebe es mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Urheberidentität mit dem Material von Oliver Rast. Nachdem der Staatsanwalt keine Fragen an die Sachverständige hat, beginnt die Verteidigung mit der Befragung.

Zuerst wollte die Verteidigung ganz allgemein wissen, welche Untersuchungsmethode angewendet worden sei. Es sei die wissenschaftliche Methode des Schriftvergleichs angewendet worden, so die Sachverständige, dabei werde in einer Vorabprüfung zunächst das Material analysiert, ob es hinreichend ist in Hinsicht auf die Ergiebigkeit, danach komme es zu einer systematischen Erhebung, wobei zuerst allgemeine Merkmale und dann besondere Merkmale untersucht werden, nach dieser vollständigen Erhebung folge dann die Bewertung und die Gesamtbewertung führe zu den entsprechenden Wahrscheinlichkeiten. Ob beim Vergleich rein visuell vorgegangen worden sei oder ob maschinelle Unterstützung herangezogen worden sei, war die nächste Frage. Es sei ein Stereomikroskop genutzt worden, das maximal eine 40-fache Vergrößerung ermögliche, um Feinheiten erkennen zu können. Je nach Fragestellung oder wenn der Auftraggeber darauf bestehe, werde auch weitere Technik verwendet, dies sei hier aber nicht der Fall gewesen. Auf die Frage, ob hier also die physikalisch-technische Untersuchung nicht angewendet worden sei, antwortete die Zeugin, dass die stereomikroskopische Untersuchung Teil der physikalisch-technischen Untersuchung sei. Der Auftraggeber sei ST 12 (Staatsschutzabteilung beim BKA) gewesen, dieser habe keine weiteren technischen Untersuchungen angefordert, warum dies so war, könne sie nicht sagen. Nun folgte ein kleines hin und her zwischen Richter und Verteidiger, da ersterer unterbrach und wissen wollte, wo das alles jetzt hinführen werde, woraufhin letzterer sich beschwerte, dass seine Befragungen immer wieder vom Gericht unterbrochen werde. Schlussendlich fuhr die Verteidigung mit der Befragung fort und zitierte aus den Richtlinien der Gesellschaft für Schriftforensik, wobei es darum ging, dass die physikalisch-technische Untersuchung integraler Bestandteil eines jeden Schriftvergleichs zu sein habe. Auf dem Wege vieler weiterer Detailfragen zur genauen Erhebung, weist die Verteidigung darauf hin, dass das Schriftgutachten nicht nachvollziehbar sei, es bestehe nur aus sechs Seiten, Methodik und Ergebnis werden dargestellt, aber die konkreten Erhebung seien nicht enthalten. Es werde einfach etwas präsentiert, das könne man akzeptieren, aber nicht nachvollziehen. Die weiteren Fragen der Verteidigung zielen auf die genaue Vorgehensweise ab und die Wissenschaftlichkeit der Tätigkeit des Schriftvergleichs: spiele es eine Rolle wie häufig bestimmte Merkmale in der Gesamtpopulation auftauchen, ob es eine Mindestanzahl an Worten/Buchstaben gebe, um Aussagen über eine Übereinstimmung abgeben zu können, so wie es bei der Stimmanalyse ist, wo es eine Mindestzeit gebe. Die Sachverständige teilt mit, dass es keine Mindestanzahl an Buchstaben gebe, es komme auf die Wertstärke eines Merkmals an, es habe viel mit Erfahrung zu tun, die allgemeine Verbreitung spiele keine Rolle, es gebe keine festen Kriterien, für die Aussagekräftigkeit von Merkmalen, es werde nicht nach Unterschieden gesucht. Die Verteidigung verwies darauf, dass es beim Internvergleich doch erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Buchstaben gebe, was die Sachverständige leugnete und meinte, dass sie Ähnlichkeiten sehe. Die Frage ,woran man denn festmache, welche Merkmale von Relevanz seien und welche nicht, wird von der Sachverständigen nicht klar beantwortet. Danach geht es um die Ziffer 3, die im Material immer wieder anders ausgeführt erscheint, worauf die Sachverständige meinte, dass diese keine systematische Unterschiedlichkeit aufweisen würden. Die Frage, ob die von der Sachverständigen zur Nummerierung der Zeilen geschriebene Ziffer 3 auf dem Material einen systematischen Unterschied zu den anderen 3en aufweise, konnte sie nicht beantworten. Um 12:30 Uhr wurde die Sachverständige entlassen und es folgte die Mittagspause bis 13:20 Uhr.

Nach der Pause wurde dann der Internvergleich des Schriftmaterial offiziell nochmal in Augenschein genommen sowie der Vergleich von Internvergleich mit Vergleichsschriftmaterial. Danach wurde der Verfahrensgang festgestellt: Das Gericht verlas chronologisch die Dokumente beginnend mit dem Antrag auf Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses vom 06.05.2013 bis zum Beschluss der Eröffnung der Hauptverhandlung und der Versendung der Ladungen.

Abschließend wurde darauf hingewiesen, das beim nächsten Termin die Plädoyers zu erwarten sind, was bedeutet, dass es beim übernächsten Termin höchstwahrscheinlich zur Urteilsverkündung kommen wird.

Um 14:15 endete der Verhandlungstag.

Der nächste Prozesstermin ist am 17. November um 09:00 Uhr am Landgericht Berlin, Turmstraße 91, Eingang Wilsnacker Str

 

1Der Bayessche Wahrscheinlichkeitsbegriff interpretiert Wahrscheinlichkeit als Grad persönlicher Überzeugung, d.h. als Sicherheit in der persönlichen Einschätzung eines Sachverhalts, und nicht als relative Häufigkeit wie das andere Wahrscheinlichkeitsbegriffe tun.

 

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