Klandestine, anarchistische Zeitung FANTASMA, 4. Ausgabe, November 2020

VERWISCHTE SPUREN HINTERLASSEN

Editorial

Einmal mehr weicht die Dunkelheit einem neuen Tag. Ich öffne meine Augen und sehe die letzten Jahre wie im Zeitraffer: der Dschungel mit seinen Bäumen, Gestrüppen und Ästen, die mir Arme und Beine zerkratzten. Diese eine Liane, die unweit vor mir baumelte, während ich verloren am Boden saß.Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, wie ich nach ihr griff, mich aufrichtete und wieder Mut schöpfte. Es folgten weites Grün, hohe Felsen, dunkle Höhlen und tiefe Schluchten, an denen ich desinteressiert vorbeizog, lange nachdem ich mir einen Weg aus dem Dickicht gebahnt hatte. Auf einmal trat ich an einen gigantischen Wasserfall mit seinem verführerischen Lied vom todbringenden Sog heran. Erversuchte vergebens,mich vom Ufer her anzulocken und ins Verderben zu reißen. Ich ging weiter. Heute ist der Himmel wolkenlos, es scheint ein guter Tag zu werden. Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen, lausche kurz der geschäftigen Stille und erhebe mich dann aus der viel zu weichen Matratze. Meine Füße schmerzen, sie sind wund von den langen Märschen durch den Nebel. Aber es ist ein guter Schmerz, denn er sagt mir, das ichSpuren hinterlassen habe. Für all jene, deren Leben sie auf den gleichen unwegsamen Pfadführen wird. Ich bin nun in der Stadt angekommen, ein neuer Lebensabschnitt beginnt.

Ein weiteres Jahr ist vergangen seit der letzten Ausgabe der Fantasma. Ein weiteres Jahr in der Klandestinität, das viele Lehrstunden bereithielt. Anstrengende Lehrstunden. In uns kämpften zwei Wölfe um die Vorherrschaft und die Selbstgeißelung wurde zur ständigen Hintergrundmusik. Die nächste Ausgabe, los, macht die nächste Ausgabe!, war das dröhnende Dogma, das immer lauter wurde in unseren Ohren. Bis zu dem Punkt, an dem wir so die Schnauze voll hatten von uns selbst, dass wir bereit waren, den Stecker zu ziehen und die Zeitung aufzugeben. Paradoxerweise erschuf dieser Fatalismus plötzlich einen Moment der Stille, in dem wir loslassen konnten; in dem wir dieses zwanghafte Gefühl, eine nächste Ausgabe auf Biegen und Brechen rausbringen zu müssen, auflösen konnten. Wir nahmen die Hände also vom Lenkrad und machten uns erleichtert auf einen Frontalzusammenstoß bereit. Doch zu unserem Erstaunen war kein Unfall die Folge, sondern das Finden einer neuen Route. Mit etwas mehr emotionaler Distanz schöpften wir neuen Elan für die vierte Ausgabe der Fantasma, von der wir nicht mehr verlangen, dass sie uns zurück ins Feld des sozialen Kampfes führen soll. Wir begreifen und schätzen sie als kleinen, einseitig beschrifteten Wegweiser auf dem Pfad ins Ungewisse. Genauso wie uns das Buch Inkognito ein solcher Wegweiser war, als unser Abenteuer seinen Anfang nahm. So freuen wir uns auch auf die Beschriftung der anderen Seite dieses Wegweisers – von bereits Zurückgelassenen für (zukünftig) Zurückgelassene von Menschen auf der Flucht. Um von Erfahrungen zu berichten und um Bezugspunkte zu schaffen, welche Richtungen eingeschlagen werden und welche Fehltritte vermieden werden können. Da gibt es sicherlich noch viel zu sagen und zu teilen.

Bis zur nächsten Ausgabe!

Fantasma Nummer 4.pdf

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