Wenn wir uns erheben. Eine kritische Analyse der Revolte gegen die Diktatur in Belarus 2020

quelle: abc dresden

Das anarchistische Kollektiv Pramen – pramen.io – veröffentlichte die folgende Analyse der Ereignisse in 2020 in Russisch und Englisch. Hier gibt es diese Eindrücke nun auch auf Deutsch für euch zu lesen. Vielen Dank an alle, die an der Überstetzung mitgearbeitet haben. Ein PDF zum download, drucken und verteilen findet ihr am Ende des Text.

Von den Autor*innen

Ein Jahr ist bereits vergangen seit dem Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes 2020, welcher zugleich der Ausgangspunkt des Aufstandes der belarussischen Bevölkerung gegen die Diktatur war. Viele Monate lang leisteten wir Widerstand gegen das Regime – auf den Straßen, in unseren Vierteln und an unseren Arbeitsplätzen – mit kreativen Formen des zivilen Ungehorsams und in ernsthaften Zusammenstößen mit den Kräften des Regimes auf den Straßen des Landes. An einigen Orten waren wir erfolgreich, aber anderswo gelang es dem Regime schnell auf die spontane Organisierung zu reagieren.

Mit dem Herannahen der Silvesternacht verstummten die großen Proteste, und nur kleine Untergrundaktionen erschütterten weiterhin die Hauptstadt. Unser Gefühl entwickelte sich von „wir haben schon gewonnen “ zu der aktuell anhaltenden Situation der Depression, in der es scheint, dass der Frühling für die belarussische Bevölkerung nicht kommen wird. Um zu verstehen, wie es weitergehen soll, ist es notwendig, die Situation beständig zu analysieren und aus Fehlern zu lernen, um sie in der Zukunft zu vermeiden. Dieser Text ist ein Versuch, eine solche kritische Überprüfung vorzunehmen. Er soll nicht dazu dienen, neue Teilnehmer*innen zu inspirieren oder die Moral aufrechtzuerhalten, sondern in erster Linie dazu, zu verstehen, was hier und jetzt auf der Straße passiert und wohin wir von hier aus gehen sollten.

Kritik ist willkommen!

Anarchist*innen nehmen an einem spontanen Protest gegen die Amtseinführung Lukaschenkos teil. Auf dem Transparent steht „Selbstorganisation, nicht Selbstkrönung“.

 

Dezentralisierung als eine Kernstärke des belarussischen Aufstandes

Die Mobilisierung gegen die Diktatur im Jahr 2020 fand im ganzen Land statt. Die vereinigten Initiativgruppen, die sich um das Hauptquartier von [Oppositionskandidatin] Swetlana Tichanowskaja bildeten, leisteten gute Arbeit bei der Aktivierung der Bevölkerung. Die meisten Belaruss*innen kannten die Ergebnisse der Wahlen bereits im Voraus, aber diese politische Agitation basierte in erster Linie auf der Teilnahme am demokratischen Prozess und dem Versuch, ihre Stimmen zu schützen. Die Anarchist*innen hatten in dieser Hinsicht wenig Erwartungen, und deshalb riefen die meisten Kollektive zu einem direkten Boykott der Wahl auf und dazu am 9. August auf die Straße zu gehen.

Aufgrund dieser fehlenden Illusionen über die Wiederwahl,[1] bildeten sich schon vor August lokale Widerstandsgruppen, mit dem Ziel, nach der „Auszählung“ der Stimmen an Protesten teilzunehmen. Die Bemühungen der liberalen Gruppen, die in den Städten Belarus mit einem halblegalen Status arbeiteten, erhöhten das Potenzial dieser Mobilisierung.

Es ist schwer zu sagen, ob Tichanowskaja und ihr Team das Ausmaß des Sturms verstanden, der schon vor dem Präsidentschaftswahlkampf begonnen hatte. Die Unzufriedenheit mit Lukaschenkos Politik im Kampf gegen COVID-19 hatte bereits einen erheblichen Teil der Bevölkerung mobilisiert. Gruppen, die gegenseitige Hilfe selbst-organisierten, waren in verschiedenen Regionen aktiv.

Die politische Kampagne von Tichanowskaja beeinflußte, wie das Coronavirus, das ganze Land. Der Plan für den Wahltag basierte nicht auf einem großen Protest in Minsk, sondern auf der Teilnahme an Kundgebungen im ganzen Land. Das Lukaschenko-Regime rechnete nicht mit einer so hohen Mobilisierung in den verschiedenen Regionen.

Im Resultat bereiteten wir uns mit Gruppen (einschließlich Anarchist*innen) nicht nur in Minsk, sondern auch in anderen Städten und Orten des Landes für den 9. August vor. Obwohl die Behörden versuchten, das wachsende Feuer in verschiedenen Regionen durch einige gezielte Verhaftungen prominenter Politiker*innen und Aktivist*innen zu löschen, gingen am Wahltag landesweit Zehntausende auf die Straße und forderten den Sturz des Regimes.

Den an diesem Abend in Minsk eingesetzten Polizeikräften gelang es schließlich, den Protest aufzulösen. Nachdem Demonstrant*innen die Polizei in einigen Kleinstädten in die Flucht geschlagen hatten, war der Ruf der vermeintlich unverwüstlichen „Peiniger“ [Punishers][2] jedoch enorm angeschlagen. Die Flucht der Bereitschaftspolizei schaffte eine Dynamik in der belarussischen Gesellschaft, die noch monatelang anhielt. Soziale Netzwerke spielten in den ersten Tagen eine große Rolle bei der Demoralisierung des Regimes: Trotz des Versuchs des Regimes, das Internet abzuschalten, war es leicht Videos, Fotos und persönliche Berichte von Zusammenstößen mit dem Regime zu finden, bei denen die Menschen als Sieger*innen hervorgingen. In kleinen Städten feierten die Menschen ihren Sieg über die Diktatur, nachdem die lokalen Peiniger geflohen waren.

In den ersten Tagen der Proteste errichteten Demonstrant*innen zum ersten Mal in der modernen Geschichte von Belarus Barrikaden.

An diesem Punkt hat die Dezentralisierung den zentralisierten belarussischen Staat überflügelt und vorübergehend besiegt. Es war die Dezentralisierung der Bewegung, die es ermöglichte, den Protest bis November fortzusetzen.

Aber gerade in diesen ersten Tagen wurde das erste Problem des belarussischen Protests deutlich: das Fehlen konkreter Ziele der Straßenproteste. Wenige hatten ein Verständnis für die Mechanismen, dies braucht, um ein autoritäres Regime zu stürzen. Ja, es gab die von liberalen Mythen genährte Hoffnung, dass, wenn genug friedliche Menschen auf die Straße gingen, das Regime Angst bekäme und zusammenbrechen würde. Aber die Realität war weniger romantisch.

Nach den nächtlichen Zusammenstößen mit der Bereitschaftspolizei und den internen Truppen,[3] als die Demonstrant*innen in ihre Häuser flohen, gab es einige Leute, die wach blieben: die Strateg*innen des Regimes, die aktiv weiterarbeiteten und ihre nächsten Schritte planten. Die symbolischen Siege in Pinsk[4] oder Brest konnten keinen Raum für weiteren Protest zurückgewinnen; die Plätze und Gebäude wurden weder besetzt noch zerstört. Und obwohl bei den Zusammenstößen mehrere Dutzend Peiniger verletzt wurden, entstand kein ernsthafter Schaden an der Infrastruktur der Diktatur. Wir könnten lange darüber diskutieren, ob es sinnvoll ist, die Verwaltungsgebäude oder die Hauptpost zu besetzen, so oder so haben die Menschen das nicht getan.

Dennoch war der symbolische Sieg der ersten Tage ein schwerer Schlag für die Moral der Regierenden. Bis dahin hatten sie mit völliger Straffreiheit für ihre Taten rechnen können, und die meisten von ihnen hatten nie den Zorn der Bevölkerung zu spüren bekommen. Danach begann ein Exodus aus dem Innenministerium und dem KGB (in Belarus wird die Geheimpolizei immer noch KGB genannt). Einige der KGB-Offiziere versuchten, sich den Proteststrukturen anzuschließen; andere hielten sich bedeckt und warteten auf die Flucht des Diktators.

Es war die Angst, massakriert zu werden, nicht ihre hohen moralischen Werte, die die Mehrheit der Offiziere zur Flucht bewegte.

In Minsk führte die Dezentralisierung zu Nachbarschaftsinitiativen. An einigen Orten veranstalteten die lokalen Gemeinschaften gemeinsame Feste für Kinder und Erwachsene. Andernorts politisierten sich die Gruppen schnell. In Uručča (Minsk) zum Beispiel schlossen sich lokale Initiativen zusammen und verabschiedeten sogar ein politisches Programm. Die gleiche Art von politischen Erklärungen und Bildung von politischen Gruppen fand in anderen Teilen der Hauptstadt statt. Obwohl sich die Stadtteilinitiativen mehr mit Kulturarbeit oder Subbotniks[5] beschäftigten, brachte die Bewegung zum ersten Mal in der langen Geschichte der Region die politische Organisation zurück auf die Basisebene.

Das Fehlen politischer Parteien und klarer Anführer*innen, die die Aktivist*innen um sich scharen, machte es schwierig, die Proteste zu unterdrücken. Der Staatsapparat konnte lange Zeit nicht herausfinden, wie er sich an das dezentrale Format der Aktionen in Minsk anpassen sollte. Zahlreiche Vorträge, Kundgebungen und offene politische Versammlungen wurden ohne die Gefahr von Repressionen abgehalten. Dieses Maß an politischer Freiheit war für die Mehrheit der Belaruss*innen einfach ungewohnt.

Leider breitete sich die Bewegung der Nachbarschaftsversammlungen nur in der Hauptstadt aus. In Brest, Grodno und einigen anderen protestierenden Städten gab es ebenfalls Versuche, lokale Gruppen zu organisieren, aber die Welle des Aktivismus erreichte diese Regionen erst zu einem Zeitpunkt, als die Behörden lernten, mit den lokalen Bewegungen erfolgreich umzugehen, und die Zahl der Demonstrant*innen bereits sank.

Nach Wochen intensiver Demonstrationen auf den Straßen und dezentraler Aktionen passte sich das Regime erneut dem Geschehen an und räumte konsequent ein Viertel nach dem anderen. Obwohl zahlreiche Gruppen auf Telegram weiterhin existieren, sind die meisten Nachbarschaftsinitiativen nun im Überlebensmodus und führen nur noch selten irgendwelche Aktionen durch. Der deutliche Rückgang der Aktivitäten hat es dem Regime auch viel leichter gemacht, zu kontrollieren, was in den Nachbarschaften passiert und auf kleine Demos oder Veranstaltungen im Freien zu reagieren.

Die Arbeit mit Nachbarschaftsversammlungen brachte auch einige Herausforderungen für die Bewegung gegen Lukaschenko. In vielen der organisierten Nachbarschaftsgruppen gab es Leute, die sich selbst in die Rolle von Anführer*innen versetzten. Dieselben Leute waren aktiv damit beschäftigt, eine bestimmte Agenda innerhalb ihrer Netzwerke voranzutreiben. Das bedeutete, dass einige Chats alle Nachrichten löschten, die zu direkten Aktionen aufriefen, während andere Chats alle Versuche löschten, zu friedlichen Protesten aufzurufen. Diese Art der Trennung gab es in der gesamten demokratischen Bewegung, aber die Anwesenheit von Moderator*innen, die de facto zu den Chefs ihrer jeweiligen Gebiete wurden, reproduzierte oft die Dynamik der Diktatur im Kleinen, so dass die Leute gezwungen waren, nicht nur gegen Lukaschenko zu kämpfen, sondern auch gegen lokale Aktivist*innen, die aufgrund ihrer technischen Kenntnisse mehr Macht innerhalb der Nachbarschaftsinitiativen hatten.

Das entspricht durchaus der belarussischen Gesellschaft insgesamt, die sich seit vielen Generationen in den Händen der einen oder anderen Diktatur befindet. Die autoritäre Dynamik des Staates manifestiert sich in unserer Gesellschaft in vielen Bereichen, von der Bildung bis zum Arbeitsplatz. Es ist logisch, dass die gleichen Probleme mit kleinen Anführer*innen innerhalb von Nachbarschaftsinitiativen auftraten.

Diskussionen über Dezentralisierung und Nachbarschafts-versammlungen führten dazu, dass der Einfluss von Ideen über dezentralisierte soziale Organisierung vom Schweizer liberalen Föderalismus bis zum Anarchismus zunahm, der dadurch für einige Teilnehmende der Demokratiebewegung eine neue Bedeutung bekam. Irgendwann wurde die Agenda der Dezentralisierung so wichtig, dass sogar liberale politische Parteien und Gruppen versuchten, sie in verschiedenen Formaten zu fördern, von der Verwendung fiktiver Selbstverwaltungsinstitutionen innerhalb der Diktatur[6] bis hin zu Vorträgen über die Schweizer Kantone und die Möglichkeiten der zivilen Kontrolle des Staatsapparats.

Im aktuellen Kontext der Repression und der Notwendigkeit des politischen Überlebens sind Gespräche über verschiedene Formate dezentraler Organisation in den Hintergrund getreten, aber wir hoffen, dass diese politische Agenda bei zukünftigen Versuchen, Lukaschenko zu stürzen, wiederkehren wird. Schließlich hat die belarussische Gesellschaft das Beispiel Russlands gesehen, das in den 1990er Jahren versucht hat, seinem sowjetischen Erbe des Staatskapitalismus zu entkommen und in der Diktatur Putins gelandet ist. 2014 kam es in der Ukraine nach den friedlichen Maidan-Protesten von 2004 erneut zu einer Revolte, die eine weitere Runde des Kampfes gegen den Autoritarismus in der Region einleitete. Wir glauben, dass diese Keime der Dezentralisierung diese Welle der Repression überleben werden, und auch das Regime selbst.

In Minsk und einigen anderen Städten wurden bei den Zusammenstößen mit der Polizei Molotowcocktails genutzt.

 

Repression gegen Alle

Der Sieg über die Polizei wurde teuer bezahlt. In drei Tagen wurden mehr als 6000 Menschen verhaftet; in Zellen und Gefängnissen kam es zu Folter und Vergewaltigungen, und mindestens ein paar Menschen wurden ermordet. Tagsüber erlebten die großen Städte die chaotischen Versuche des Regimes, jeden gefangen zu nehmen, den sie konnten. Ein großer Teil der Verhafteten waren zufällige Passant*innen, die am hellichten Tag festgenommen wurden. Die staatliche Gewalt richtete sich gegen alle Schichten der Gesellschaft. Zu den Opfern gehörten alle: von einfachen Arbeiter*innen bis hin zu Regimeanhänger*innen, deren Familien trotz ihrer Loyalität zum Regime von der Straße gezerrt wurden.

Festgenommene Demonstrant}innen in der Turnhalle einer der Polizeistationen. Die Bereitschaftspolizei versuchte mit Demütigungen und Folter, den kollektiven Mut der Bewegung zu brechen.

In dieser Atmosphäre begrüßten viele die gewaltfreien Demos, die sich innerhalb weniger Tage über das ganze Land ausbreiteten und eine Illusion von Sicherheit schufen. Der Beginn der friedlichen Proteste fiel mit der Entscheidung des belarussischen Regimes zusammen, seine Politik der totalen Repression vorübergehend aufzugeben. Sonntagsdemos wurden zum organisatorischen Schwerpunkt dieser sogenannten friedlichen Demonstrationen.

Die Repression bei den Großdemonstrationen in Minsk und einigen anderen Städten war gering; in der Regel wurden etwa hundert Menschen festgenommen. In Anbetracht der Tatsache, dass über 100.000 Menschen auf die Straße gingen, schien das wenig. Einige Telegramkanäle berechneten sogar die Chancen, bei einer Demonstration verhaftet zu werden, indem sie die Zahlen der Verhafteten in der Vergangenheit heranzogen.

Aber während in Minsk weiterhin die relative Ruhe und das Gefühl, dass das Regime kurz vor dem Sturz steht, gefeiert wurde, war die Repression in den entlegenen Regionen viel intensiver. Bereits im August wurden Dutzende von Menschen in verschiedenen konstruierten Fällen verhaftet. Der Druck auf die Organisator*innen lokaler Straßenkundgebungen nahm zu, und die Zerschlagung war effektiver.

Ein paar Wochen später stellten viele Beobachter*innen fest, dass sich die Situation bereits verschlimmerte, da die Basisbewegung allmählich in genau den Regionen unterdrückt wurde, die ursprünglich die Grundlage des belarussischen Aufstandes gewesen waren.

Lukaschenkos Strategie war relativ einfach. Zuerst unterdrückte er die Kleinstädte, dann die regionalen Zentren, und als sich die Lage dort beruhigt hatte, begann er, eine vollständige und endgültige Säuberung von Minsk zu planen.

Dieses schrittweise Vorgehen bei der Unterdrückung ermöglichte es dem Regime, seine Macht wiederherzustellen. Die meisten wichtigen Medien und Blogger*innen befanden sich in der Hauptstadt, so dass organisatorische Probleme und die Notwendigkeit der Solidarität mit den abgelegenen Regionen selten auf die Tagesordnung der meisten Protestgruppen kamen.

Für Anarchist*innen war die Situation bezüglich der Repression in den abgelegenen Regionen bereits in der zweiten Woche offensichtlich, als Aktivist*innen in verschiedenen Städten anfingen, Strafanzeigen zu bekommen. Einige von ihnen beschlossen bereits im August, das Land zu verlassen. Allmählich wurde die Situation für die Mehrheit der lokalen Aktivist*innen so schwierig, dass sie begannen, das Land in ganzen Gruppen zu verlassen, parallel zum Massenexodus der demokratischen Aktivist*innen.

Die Gewalt ging weiter, selbst als in Minsk ein Gefühl des Sieges herrschte. Schläge und Folter waren systematisch. Und obwohl das Ausmaß nicht mit den ersten Tagen nach den Wahlen zu vergleichen ist, fuhr das Regime fort, Aktivist*innen in Gefängnissen zu „brechen“. Physischer und psychischer Druck zwang viele Teilnehmer*innen der Bewegung, aus dem Land zu fliehen.

Die zweite Welle von COVID-19, die im Herbst 2020 begann, versetzte dem Aufstand einen zusätzlichen Schlag. Das Regime nutzte das Virus als Mittel der politischen Unterdrückung. Gesunde Inhaftierte wurden in Zellen mit Coronavirus-Kranken untergebracht. Eine Person konnte während der Haft mehrmals von Zelle zu Zelle verlegt werden, was die Verbreitung des Virus im ganzen Gefängnis erhöhte. Fast alle der im Herbst 2020 inhaftierten Anarchist*innen zogen sich das Coronavirus entweder in der Haft zu oder wurden krank entlassen und mussten noch mehrere Wochen behandelt werden.

Es war unmöglich, während der Inhaftierung medizinische Hilfe zu bekommen. Uns sind nur wenige Fälle von den über 30.000 bekannt, in denen Menschen einen Corona-Test erhielten. Einer dieser Fälle betraf einen Anarchisten. Der Test bestätigte das Vorhandensein des Virus, aber die Gefängnisbehörden beschlossen, unseren Gefährten entgegen den medizinischen Anforderungen nicht zur Behandlung freizulassen. Stattdessen steckten sie ihn für den Rest seiner Strafe in Einzelhaft in eine kalte Zelle.

Mindestens ein Mitglied der liberalen Bewegung starb an Komplikationen durch das Coronavirus, das er sich in der Haft zugezogen hatte.

Es ist erwähnenswert, dass die Bedingungen in belarussischen Gefängnissen und Haftanstalten per se als Folter angesehen werden können. Die Zahl der Inhaftierten in den Zellen war zwei- oder dreimal so hoch wie die Zahl der Betten. Viele Verhaftete wurden gezwungen, auf dem Holz- oder Steinboden zu schlafen. Die hellen Lichter in den Zellen wurden auch nachts nicht ausgeschaltet. Die in den Vorschriften vorgeschriebenen täglichen einstündigen Spaziergänge im Freien fanden höchstens ein- bis zweimal in der Woche statt, wobei die Dauer auf 10-15 Minuten reduziert wurde. Decken wurden oft nicht zur Verfügung gestellt und später stellten die Behörden auch keine Matratzen mehr zur Verfügung. Die Inhaftierten wurden systematisch geschlagen – und werden auch heute noch geschlagen.

Menschenmengen vor einem der Gefängnisse in Minsk, die darauf warten zu erfahren, was mit ihren Freund*innen und Familienangehörigen geschehen ist. Mehrere Nächte lang hörten die Wartenden draußen Folterschreie aus dem Inneren des Gefängnisses.

Lange Zeit war die Behandlung von politischen Gefangenen, die aufgrund von kriminiellen Paragraphen verhaftet wurden, etwas besser, aber in den letzten Monaten hat sie sich weiter verschlechtert. Die Gefangenen werden sowohl vor als auch nach dem Prozess geschlagen. Der Tod von Vitold Ashurak[7] war die Folge der qualvollen Bedingungen, denen politische Gefangene ausgesetzt sind.

Heute versucht das Regime, die Reste der Nachbarschafts-Aktivist*innen zu zerschlagen und das politische Leben in Belarus zu zerstören. Zu diesem Zweck setzt es kollektive Bestrafung ein: Menschen, die nicht am Protest teilgenommen haben, aber auf der Liste der Aktivist*innen stehen und die nach Meinung des Regimes eine Strafe für die Handlungen anderer verdienen, können in einigen Stadtvierteln inhaftiert werden. In dieser Situation besteht bei der Organisation von Aktionen die Gefahr, dass willkürlich Menschen festgenommen werden. Die Verantwortung für diese willkürliche Repression, versucht das Regime den Aktivist*innenen selbst zuzuschieben. Diese Taktik wurde 2014-2016 gegen Anarchist*innen angewandt, als einige Gruppen spontane Aktionen organisierten und die Regierung daraufhin bekannte Aktivist*innen ins Visier nahm.

Rollenspiel jüngere Demonstrierenden zum Verhalten auf Demonstrationen.

Die De-Eskalation und anschließende Eskalation des Konflikts

In den ersten Tagen der Proteste wählte das Regime eine Strategie der totalen Unterdrückung. Lukaschenkos Strategen gingen davon aus, dass die meisten Menschen in die Hauptstadt gehen würden, wo es möglich sein würde, alles in ein oder zwei Tagen zu beenden. Ein paar Tage später hatte die Taktik der Massenunterdrückung wenig Effizienz gezeigt und nur das Niveau der Konfrontation erhöht – unter anderem durch die Mobilisierung informeller Kollektive von Arbeiter*innen in verschiedenen Fabriken. In dieser Situation waren Lukaschenkos Strategen in der Lage, recht schnell die Richtung zu ändern, und am Wochenende hatten sie bereits ihre Versuche aufgegeben, den Protest so schnell wie möglich zu zerschlagen. Stattdessen setzte das Regime in Minsk auf eine Strategie der relativen Deeskalation. Nachrichten über brutale Massenverhaftungen tauchten nicht mehr im Internet auf. Obwohl die Demonstrant*innen in der ersten Woche nach der Wahl über das Verhalten der Polizist*innen empört waren, übertönten Rufe nach Frieden die Versuche, ein für alle Mal mit der Diktatur fertig zu werden.

Die friedlichen Proteste brachten viel mehr Menschen auf die Straße, und für den liberalen Teil des Aufstandes war die Revolution bereits vollendet – nach dem liberalen Konzept der politischen Beteiligung am Leben des Landes würde eine so große Zahl von Demonstrant*innen unweigerlich zu radikalen Veränderungen führen. Die großen Telegram-Kanäle und Blogger*innen sprachen darüber. In dieser Zeit erlangte der russische Blogger Maxim Katz unglaubliche Popularität, indem er behauptete, dass die belarussische Gesellschaft bereits gewonnen habe und Lukaschenko nach dem Blutvergießen eine politische Leiche sei. Katz und andere liberale Politiker*innen machten den Fehler, zu versuchen, die demokratische politische Analyse auf eine osteuropäische Diktatur anzuwenden. Lukaschenkos politische Untauglichkeit zur Führung der Gesellschaft wurde während seiner gesamten Amtszeit als Präsident wiederholt bewiesen. Das hindert ihn nicht daran, an der Macht zu bleiben und sich weiterhin das Image eines Diktators “des Volkes“ zu geben.

Obwohl die vorübergehende Deeskalation es uns ermöglichte, Kräfte zu sammeln und eine breite selbstorganisierte Struktur in Minsk und einigen anderen Städten zu schaffen, spielte die Deeskalation auf lange Sicht mehr zum Vorteil von Lukaschenko und seiner Bande, die die Kontrolle über die abgelegenen Regionen Schritt für Schritt zurückgewannen, während die Medien und Aktivist*innen hauptsächlich dem Geschehen in Minsk Aufmerksamkeit schenkten.

Die Lukaschisten „arbeiteten“ die Deeskalationsperiode perfekt aus: Schritt für Schritt und sorgfältig unterdrückten sie nicht nur liberale Aktivist*innen, sondern auch organisierte Arbeiter*innen, die versuchten, in den Fabriken eine Protestdynamik aufzubauen. Die relative Isolation der Arbeiter*innen vom Rest der Protestbewegung machte es möglich, schnell mit protestierenden Fabrikarbeiter*innen umzugehen.

Die starke Re-Eskalation des Konflikts in Minsk provozierte keine intensiven Reaktion mehr wie vorher. Als es erneut eskalierte, waren viele Aktivist*innen bereits wegen strafrechtlicher Vorwürfe im Gefängnis oder im Exil. Versuche, eine neue Runde von Protesten zu entfachen, scheiterten – der letzte derartige Versuch war die Verteidigung des Denkmals für Roman Bondarenko,[8] der mit einer vollständigen Räumung endete. Eine beträchtliche Anzahl von Demonstrant*innen entschied sich dafür, den Platz zu verlassen, um Repressalien zu vermeiden, und mehrere hundert Menschen wurden direkt an Ort und Stelle festgenommen.

Anarchistisches Transparent während des Schutzes des Gedenkortes für Roman Bondarenko, einen Aktivisten einer der Nachbarschaftsversammlungen in Minsk, der vom Regime ermordet wurde. „Kämpfen heißt erinnern“.

Nach wiederholten Niederlagen nahm die Bereitschaft, auf die Straße zu gehen, ab. Mehrere Wochenenden mit dezentralen Aufmärschen machten es den Polizisten schwerer, die Proteste zu unterdrücken, aber es gelang nicht, das Protestpotenzial in der Hauptstadt oder den entlegenen Regionen in irgendeiner Weise wiederherzustellen. Obwohl die Bewegung bis Ende 2020 weitgehend erloschen war, hält die Repression bis heute auf hohem Niveau an.

Als Aktivist*innen haben wir es versäumt, die vorübergehende Deeskalation zu nutzen, um unsere eigenen Kräfte aufzubauen. Die Angst vor Repression und vor Verurteilung nicht nur durch Lukaschenko, sondern auch durch andere Demonstrant*innen hat unsere eigenen Versuche, die Bewegung zu eskalieren, die Lukaschenko und sein Regime hätten zerstören können, weitgehend verhindert. Stattdessen akzeptierten wir das Narrativ des friedlichen Protests – und als die Regierung eine erneute Runde der Eskalation einleitete, waren wir schwer demoralisiert und erschöpft von der Repression, die sich gegen einzelne Aktivist*innen richtete.

Die Tatsache, dass die Mehrheit nicht bereit war, aktiv Widerstand zu leisten, hätte nicht den Horizont unseres eigenen Handelns bestimmen sollen. Organisierte Gruppen von zehn oder mehr Personen können innerhalb von friedlichen Demonstrationen mit ihrer eigenen Zielsetzung und Strategie effektiv agieren. Wir waren in der Lage, als organisierte Gruppe mit unserer eigenen Agenda innerhalb der Demos zu sprechen, aber wir haben es nicht geschafft, diese Agenda in die Tat umzusetzen.

Die Anarchist*innen bekamen den Ruf als eine der am besten organisierten Gruppen bei den Protesten.

Streiks und Arbeiter*innenproteste

Bereits in der ersten Woche schwappte eine Welle von Streiks über das Land. Arbeiter*innen, empört über die Unterdrückung ihrer Kolleg*innen und die Gesetzlosigkeit der Polizei, forderten, dass das Regime die Gewalt stoppt und alle, die wegen der Proteste verhaftet und festgehalten wurden, freilässt. Viele von ihnen bildeten informelle Kollektive, die sich aus Kolleg*innen zusammensetzten, die in der gleichen Schicht arbeiteten. Die Buhrufe gegen Lukaschenko in der MZKT-Fabrik fügten seinem Image als Herrscher „des Volkes“ erheblichen Schaden zu.

Leider ebbten die Proteste der Arbeiter*innenkollektive relativ schnell ab, mit Ausnahme einiger weniger Betriebe. Nur ein Teil der Forderungen wurde erfüllt, aber relativ schnell begannen die Repressionen gegen die aktivsten Teilnehmer*innen der Streiks. Einige Arbeiter*innen wurden entlassen, einige wurden strafrechtlich verfolgt.

Zu dem Zeitpunkt, als die Streiks begannen, war die Arbeiter*innenbewegung im Land in einem sehr schlechten Zustand. Es gab nur ein paar unabhängige, liberale Gewerkschaften, die einen kleinen Teil der Arbeiter*innen vereinigten. Die meisten Arbeiter*innen hatten keine Erfahrung mit kollektiver Organisierung. Der Aufbau von Arbeiter*innenstrukturen während der aktiven Phase des Konflikts war eine große Herausforderung. Versuche liberaler NGOs, der Arbeiter*innenorganisation in einigen Betrieben zu „helfen“, brachten keine besonderen Ergebnisse – die NGOs hatten selbst keine Erfahrung mit der Organisation einer Arbeiter*innenprotestbewegung und nur Methoden aus liberalen Ländern und den jeweiligen Regeln für die Organisation von Streiks. Die Illusion der Legalität der Streiks und Proteste verlagerte einen Teil des Kampfes von den Straßen und Fabriken zu den Gerichten, wo unabhängige Gewerkschaften erfolglos versuchten, das Recht auf Organisierung am Arbeitsplatz zu verteidigen.

Der Versuch, die Diktatur in den ersten Wochen des friedlichen Protests „zu erledigen“, führte zu vielen Wechseln in der Ausrichtung des Protests. Die tagelangen Agitationen für den Streik wurde schnell durch Aufrufe zu einem wirtschaftlichen Boykott des Regimes und eine Woche später durch eine Strategie der Straßenblockaden ersetzt. Verständlicherweise suchte die Protestbewegung nach neuen Organisationsformen und Mitteln, um Druck auf das Regime auszuüben, aber der Mangel an Kontinuität untergrub die Moral, auch die der Arbeiter*innenbewegung. Solidaritätsmahnwachen vor den Fabriken dauerten mehrere Tage, bis die ersten organisierten Gruppen der OMON-Truppen eintrafen (Отряд милиции особого назначения, „Special Purpose Police Detachment“ – die Bereitschaftspolizei in Belarus). Drohungen mit Repressalien reichten aus, um die Brücke zwischen den Arbeiter*innen und dem Rest der Demonstrant*innen zu brechen.

Darüber hinaus weigerte sich der privilegierteste Teil der Arbeiter*innenklasse in Belarus – die Arbeiter*innen der Informationstechnologie (IT) – an der Streikbewegung teilzunehmen. Viele IT-Arbeiter*innen argumentierten , dass es notwendig sei, die Protestbewegung zu finanzieren. In der Tat finanzierten einige dieser Leute aktiv verschiedene Solidaritätsstrukturen. Einige argumentierten auch, dass Streiks sowohl privaten Firmen als auch Lukaschenko schaden würden, was wiederum dem Image des IT-Sektors des Landes schaden würde.

Unter Berücksichtigung all dieser Argumente hätte eine organisierte Streikbewegung der IT-Arbeiter*innen mehr Gutes bewirkt als das Geld, das eben diese in den Protest gesteckt haben. Erstens würde eine große Streikbewegung in einer Branche dazu beitragen, den Streik auf andere Sektoren auszuweiten. Abgesehen davon ist das Risiko, den Arbeitsplatz zu verlieren, für IT-Arbeiter*innen weitaus weniger existenziell als für Fabrikarbeiter*innen, von denen viele von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck leben. Jeder so genannte Imageschaden der IT-Industrie in Belarus würde nach einem Sturz des Regimes schnell wieder behoben werden, da die IT-Arbeiter*innen selbst nicht für bessere Arbeitsbedingungen, sondern für allgemeine demokratische Prozesse protestierten. Wir sollten auch hinzufügen, dass es für IT-Arbeiter*innen relativ sicher war, sich am Arbeitsplatz zu organisieren: Während der Proteste gab es nur wenige Fälle von Repressalien gegen Arbeiter*innen in privaten Firmen. Gleichzeitig konnten dieselben Arbeiter*innen einen Teil der Firmeninfrastruktur, die ihnen für ihre persönliche Freizeit zur Verfügung stand, nutzen, um Organisationstreffen abzuhalten.

Insgesamt zeigte der IT-Sektor wenig oder keine politische Macht. Ja, IT-Arbeiter*innen nahmen unabhängig an den Protesten teil. Aber sie zeigten keine intensive Organisierung, obwohl viele über Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen, die sie hätten einbringen können.

In einigen Fällen hielten kleine Privatfirmen eintägige symbolische Streiks ab, um die streikenden Unternehmen zu unterstützen, aber diese Aktionen hatten keinen Massencharakter; die Agitation wurde nur wenige Tage vor dem Protest durchgeführt und ging in vielen Fällen im allgemeinen Informationsrauschen unter.

Arbeiter*innen konfrontieren ihren Chef mit dem Thema Polizeigewalt.

Bis jetzt streiken noch einige hundert Arbeiter*innen im ganzen Land, aber zum jetzigen Zeitpunkt können wir sagen, dass die Streikbewegung in Belarus gescheitert ist, ohne sich massenhaft zu organisieren. Die gegenwärtige Situation ist ein Ergebnis der erfolgreichen Strategie des Regimes, die unabhängigen Arbeiter*innenorganisationen und Gewerkschaften zu zerstören, die bereits in den 1990er Jahren begann. Die Haltung des belarussischen Staates gegenüber der Arbeiter*innenbewegung ist ähnlich wie die sowjetische. Die Rolle der staatlichen Föderation der Gewerkschaften von Belarus besteht darin, jede Initiative zu zerstören, die von Arbeiter*innen ausgehen könnte. Darüber hinaus ist diese Föderation aber auch wichtig, weil sie das Bild einer absolut nutzlosen Gewerkschaft schafft, die einen Teil der Löhne der Arbeiter*innen einsammelt und Eintrittskarten für staatliche Veranstaltungen zur Verfügung stellt.

Das Desinteresse der liberalen Opposition an der Arbeiter*innenbewegung vergrößerte die Distanz der Durchschnittsarbeiter*innen von der Idee, die Diktatur zu zerstören und dem Streben nach Freiheit. Unterdessen sind Anarchist*innen nicht in der Lage, Arbeiter*innen in diesem Stadium in irgendeiner bedeutenden Weise zu beeinflussen, aufgrund ihrer geringen Anzahl, ihrer relativ geringen organisatorischen Ressourcen und ihrer spezifischen politischen Agenda, in der die Arbeiter*innen fast keine Rolle spielen.

Gleichzeitig konnten die Arbeiter*innen in Belarus im Jahr 2020 zum ersten Mal seit 20 Jahren politischen Willen zeigen und ihren Widerstand gegen staatliche Gewalt und Diktatur zum Ausdruck bringen, wenn auch nur für ein paar Tage. Das relativ schnelle Erlöschen der Protestagenda in den Arbeiter*innenkollektiven war in erster Linie darauf zurückzuführen, dass das Regime schwere Repressionen ausübte. Stärkere Solidarität oder ernsthaftere Strukturen konnten aufgrund des Drucks des Staates auf die Arbeiter*innen und den Rest der Protestbewegung gar nicht erst entstehen.

Die alte Opposition und die neue Opposition

Zunächst einmal lohnt es sich, zu definieren, was die „alte“ Opposition ist. Dieser Begriff bezieht sich auf liberale und rechtsgerichtete Gruppen, die in Opposition zur Lukaschenko-Regierung stehen. Dazu gehören registrierte politische Parteien, politische Organisationen und einzelne Politiker*innen, die schon seit vielen Jahren aktiv sind. Traditionelle Beispiele für die alte Opposition sind die Vereinigte Bürgerpartei, die Belarussische Volksfront, die Belarussische Christdemokratie und das Europäische Belarus. Statkewitsch, Severinets, Vechorka und sogar Pazniak können zu den alten, aber aktiven Oppositionspolitikern gezählt werden. Die alte Opposition ist keine homogene Gruppe, daher werden wir uns auf einzelne Politiker oder Organisationen konzentrieren.

Die neue Opposition bezieht sich auf politische Organisationen, Gruppen und Politiker*innen, die in den letzten Jahren begonnen haben, in der öffentlichen Arena aufzutreten. Dazu gehören auch Personen, die vor diesen Wahlen nicht in der Opposition aktiv waren. Die bekanntesten Beispiele für diese Politiker*innen sind Tichanowskaja oder Babariko. Die Politiker*innen und Organisationen der neuen Opposition unterscheiden sich voneinander in ihren politischen Ansichten und in den Methoden, die sie im Kampf gegen die Diktatur anwenden.

In den Jahren der Herrschaft Lukaschenkos ist es ihm gelungen, mit der organisierten Opposition hauptsächlich durch Repression fertig zu werden. Zwischen 2010 und 2020 wurden die meisten liberalen und nationalistischen Parteien zerschlagen. Jugend-Straßenorganisationen hörten auf zu existieren. Und obwohl Lukaschenko seit 2015 begonnen hat, in verschiedenen wirtschaftlichen und politischen Prozessen eng mit der Europäischen Union zusammenzuarbeiten, hat dies nicht zur Wiederbelebung der liberalen politischen Kräfte im Land beigetragen. Die Europäische Union und die USA haben bei der Unterdrückung der Zivilgesellschaft bis 2020 größtenteils ein Auge zugedrückt. Die Unterdrückung der Bewegung gegen das Gesetz zur Bestrafung von „Parasitentum“ im Jahr 2017 weckte klassische EU-Bedenken über Bürgerrechtsverletzungen in Belarus – aber westliche Politiker*innen unternahmen zu diesem Zeitpunkt nichts.

In dieser Atmosphäre übten nur einige wenige Politiker der alten Opposition weiterhin systematisch politischen Druck aus. Die Rede ist vor allem von Statkewitsch und Sewerinets, die 2017 die Bewegung gegen das „Parasitentum“-Gesetz ins Leben gerufen haben. Über die politischen Ansichten der beiden ist schon genug geschrieben worden. Mit Ausnahme dieser Politiker sind die meisten der Karriere-Oppositionsführer*innen in den Hintergrund gedrängt worden. Nach den Maidan-Protesten in der Ukraine im Jahr 2015 entschied ein Teil der alten Opposition, dass es besser sei, Lukaschenko und zumindest etwas Unabhängigkeit für Belarus zu haben, als zu versuchen, zu rebellieren und zu riskieren, dass Putin in Belarus einmarschiert. Pozniaks Aufrufe, sich nicht an den Protesten vom 9. August zu beteiligen, sind ein Beispiel dafür – für einige ist das Risiko, die Unabhängigkeit Belarus zu verlieren, wichtiger als die Diktatur zu stürzen.

Mit der Ausnahme einiger Politiker weckt die alte Opposition in vielerlei Hinsicht keine Emotionen in den Menschen. Es handelt sich um Menschen, die seit Jahren gegen Lukaschenko kämpfen, von denen die meisten aber kaum bereit sind, ein Risiko einzugehen. Beziehungen der liberalen und nationalistischen Opposition mit verschiedenen Organisationen im Westen verursachen oft eine negative Reaktion innerhalb der belarussischen Gesellschaft. Die Abhängigkeit von westlichen Zuschüssen hat lange die Legende aufrechterhalten, dass die belarussische Opposition von Lukaschenko profitiert, da sie in einem Gleichgewicht mit der Diktatur existiert.

Es ist falsch zu sagen, dass alle Politiker*innen und Organisationen der alten Opposition nicht wirklich gegen die Existenz der Diktatur sind, zumindest weil es noch Politiker wie Statkewitsch gibt. Aber es wäre auch töricht, die bequeme Position vieler liberaler Oppositionspolitiker*innen unter der Diktatur zu leugnen. Wie immer liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Es gibt Leute wie Olga Karach, die beruflich von Stipendien leben und kaum daran interessiert sind, radikale politische Veränderungen im Land zu sehen, weil diese die Art und Weise, wie das Geld fließt, verändern könnten. Und es gibt Aktivisten wie Viniarski, die bereit sind, sich an Protesten gegen die Diktatur zu beteiligen, auch wenn es sie ihre Freiheit kostet.

Mit Blick auf den Wahlkampf 2020 war die alte Opposition extrem geschwächt. Die politische Zusammenarbeit zwischen der EU und Lukaschenko untergrub das Gleichgewicht der Kräfte im Land. Die liberalen und neoliberalen Wirtschaftsreformen erfüllten weitgehend die wirtschaftlichen Forderungen einiger liberal-konservativer Parteien, aber die Reformen selbst brachten nicht mehr Freiheiten in die belarussische Gesellschaft. Statkewitsch, der innerhalb der aktiven Opposition das größte politische Gewicht hat, durfte nicht an den Wahlen teilnehmen, trotzdem stand er in den ersten Wochen des Wahlkampfes an der Seite der neuen Opposition.

Die Schwächung der alten Opposition schuf ein politisches Vakuum im Lande. Es war nur eine Frage der Zeit, bis andere Organisationen und Gruppen dieses Vakuum besetzten. Die Wahlen 2020 wurden zu einer Plattform für die Mobilisierung neuer Kräfte.

Der Blogger Tichanowski, der seit einigen Jahren in den entlegenen Regionen von Belarus tätig ist, wurde zu einer der politischen Figuren der neuen Opposition. Obwohl Tichanowski Verbindungen zur alten Opposition hatte, wirkte er im Vergleich zu den alten Politiker*innen relativ frisch. Das Format seines Medienprojekts gab vielen Belarus*innen eine Stimme, denen die alte Opposition nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte – den Arbeiter*innen aus den entlegenen Regionen, die jeden Tag die Last der Diktatur spüren. Es überrascht nicht, dass Tichanowski viel Unterstützung in der Bevölkerung erhielt. In vielerlei Hinsicht verschaffte Lukaschenkos Kampf mit dem Blogger ihm den Ruf eines engagierten liberalen Politikers, der bereit ist, der Diktatur zu widerstehen.

Die Verhaftung von Tichanowski, Statkewitsch und vielen anderen Politiker*innen machte Platz für einen neuen „gemäßigten“ Politiker aus der belarussischen Elite – Wiktar Babariko. Der Banker, der es nicht nötig hat, die belarussische Bevölkerung zu berauben, weil er während seiner Karriere genug Geld verdient hat, wurde zum neuen Symbol der Proteste in Belarus. Zahlreiche Belaruss*innen sammelten sich um Babariko, die alle danach strebten zur Mittelschicht des Landes zu gehören. Babariko ist das Beispiel eines erfolgreichen Kapitalisten, der sich sein Vermögen über Jahre hinweg durch eigene harte Arbeit erarbeitet hat. Dieses Narrativ spricht viele an, die noch immer in der sowjetischen Stagnation in Belarus leben müssen.

In vielerlei Hinsicht ist Babariko ein Beispiel für Lukaschenkos Elite, die trotz des sogenannten Sozialstaates existiert. Die Millionen, die Babariko erworben hat, sind nicht das Ergebnis harter Arbeit. Vielmehr sind sie das Ergebnis von Bankenspekulationen und der Bereitschaft, der Diktatur zu dienen. Doch die Kompromisse, die Babariko einging, um sein Vermögen zu erlangen, interessierten viele Belarus*innen wenig. Deshalb wurde Babariko nach Tichanowski zum neuen politischen Anführer im Wahlkampf. Hunderte von jungen Menschen, die an eine gute Zukunft unter der Führung dieses Bankiers glaubten, schlossen sich seiner Kampagne an. Nur wenige störten sich an der Tatsache, dass Babariko der Chef der Belgazprombank war, die direkt mit Putins Gazprom verbunden ist. Viele Analyst*innen glaubten, dass Babariko der ideale pro-russische Kandidat sei, um Lukaschenko zu ersetzen.

Babarikos recht hohe Unterstützung zwang Lukaschenko, eine neue Repressionswelle durchzuführen und fast alle verbliebenen Oppositionskandidaten zu verhaften. Zu diesem Zeitpunkt ahnte der Diktator nicht, dass Tichanowskaja irgendeine Art von Bedrohung darstellen könnte. Doch die Kampagnen aller inhaftierten Politiker*innen vereinten sich um Tichanowskaja, und sie wurde zu der Kandidatin, die alle Politiker*innen der alten Opposition über viele Wahlzyklen hinweg nicht zustande gebracht hatten.

Die Misogynie des Diktators und seines Regimes verleiteten sie dazu, Tichanowskaja zu unterschätzen, was genügend politischen Spielraum schuf, um nicht nur in Minsk, sondern auch in vielen Regionen bis zum 9. August zu mobilisieren. Ebenso war es Lukaschenkos Sexismus, der es Tichanowskaja ermöglichte, sich als Präsidentschaftskandidatin registrieren zu lassen.

Obwohl Tichanowskajas Kampagne versuchte, eine Art fortschrittliches politisches Programm zu erstellen, lief alles auf die Freilassung der inhaftierten Politiker*innen und Neuwahlen ohne Lukaschenko hinaus. Eine solch einfache politische Botschaft war in der Bevölkerung sehr beliebt. Am 9. August wurde nicht vorgeschlagen, eine*n neue*n Präsident*in zu wählen, sondern in einer Art Referendum abzustimmen, wobei eine Stimme für Lukaschenko die Fortsetzung der Diktatur und eine Stimme für Tichanowskaja das Ende der Ära des schnauzbärtigen Diktators bedeutete.

Neue Oppositionskräfte, darunter wichtige Blogger*innen und Telegramkanäle, konnten sich um Tichanowskaja scharen und in den sozialen Netzwerken eine mächtige Informationsagenda erstellen. Auf den Straßen wurden zahlreiche angemeldete Versammlungen ohne die Kandidatin selbst abgehalten[9]; es handelte sich um politische Kundgebungen.

Dank der Konzentration auf die abgelegenen Regionen war es möglich, eine so große Anzahl von Menschen zu mobilisieren. Das politische Leben im Land wurde nicht nur zur Domäne der Hauptstadt, sondern auch vieler Kleinstädte, in denen die Ermüdung gegenüber Lukaschenko ein viel höheres Niveau erreicht hatte als im relativ wohlhabenden Minsk.

Neue Gesichter im Wahlkampf, eine relativ einfache Botschaft und die Bereitschaft, vor Ort zu arbeiten, waren der Schlüssel zum Wahlerfolg der neuen liberalen Opposition. Probleme und Ausrutscher begannen unmittelbar nach der Wahl, als sich die Illusion verbreitete, Lukaschenko würde aufgeben. Mit der Ausreise von Tichanowskaja waren die verbliebenen liberalen Politiker*innen im Lande gezwungen, sich nach neuen Repräsentant*innen umzusehen.

Die Vorhersagen liberaler politischer Analyst*innen, dass das Regime kurz vor dem Sturz stehe, wurden mit Begeisterung aufgenommen. Es blieb nichts anderes übrig, als die Situation auszunutzen, um politische Punkte für den nächsten Wahlzyklus zu sammeln. Leider war, wie bereits erwähnt, diese Analyse der Situation falsch. Versuche, neue politische Parteien und politische Organisationen zu gründen, um die Tagesordnung zu übernehmen, verwirrten nur die Demonstrant*innen auf der Straße. Und während die Nachrichtenkanäle die Gründung eines Koordinationsrates mit Begeisterung aufnahmen, waren viele weiterhin über die Rolle dieses Rates verwirrt und nahmen die Versuche, eine neue Führung zu werden, mit Skepsis auf. Die Ankündigung, dass Maria Kolesnikova eine politische Partei gegründet hatte, provozierte noch mehr Unzufriedenheit mit den Ambitionen einiger Politiker*innen in der neuen Opposition. Darüber hinaus stellten die Proteste vom 9., 10. und 11. August viele Politiker*innen und Propagandist*innen des Regimes vor die Wahl: auf dem sinkenden Boot zu bleiben und möglicherweise auf der Verlierendenseite der neuen politischen Ordnung zu stehen, oder die Seite zu wechseln und sich der Opposition anzuschließen. Einer dieser Politiker war Pawel Latushko, ehemaliger Lukaschenko-Diplomat. Er war Leiter des Kupalow-Theaters als die Proteste begannen. Latushko war Mitglied des Koordinationsrates und strebte offensichtlich eine ernsthafte politische Karriere in einem freien Belarus an.

Neben den Politiker*innen begannen auch die Polizisten die Galeere zu verlassen. Irgendwann gründeten sie ihre eigene Organisation namens bypol, mit einer langen Liste von Zielen. Kürzlich erklärte einer der ehemaligen Leiter der politischen Polizei und jetziger Vertreter von bypol, dass hochrangige Positionen in der neuen belarussischen Regierung auf die Mitglieder der Organisation warten. Sowohl bypol als auch Latushko entwickeln nun ein Reformprogramm für das Innenministerium, mit einem eher bescheidenen Programm zur Säuberung des derzeitigen Repressionsapparates.

Je mehr Zeit seit den Präsidentschaftswahlen vergeht, desto mehr ähnelt die neue belarussische Opposition der alten. Es gibt ständige Spaltungen, Versuche, Einflusszonen aufzuteilen, und neue politische Organisationen, die unter anderem gegründet werden, um Geld auszugeben. Die Aufrichtigkeit dieser Politiker*innen und Organisationen wird von den Straßenaktivist*innen weitgehend in Frage gestellt. Obwohl Tichanowskaja für viele immer noch eine einigende Figur ist und sich auch Vertreter*innen der alten Opposition um sie geschart haben, nimmt ihr Einfluss auf die Prozesse innerhalb der neuen Opposition weiter ab.

Die neuen liberalen Gruppen und Organisationen haben viele der Fehler wiederholt, die die Politiker*innen vor ihnen gemacht haben. Der tiefe Glaube an westliche Unterstützung hat die Legitimität der Liberalen im Lande nur weiter untergraben. Heute sind sich viele bewusst, dass Veränderung nur von innen kommen kann, nicht von außen, egal welche Sanktionen ausländische Mächte versprechen. Nur die belarussische Bevölkerung kann Lukaschenko stürzen, nicht Sanktionen des Westens.

Aber das Regime spielte auch eine wichtige Rolle bei der Zerstörung des politischen Einflusses der neuen Opposition. Mit russischer Unterstützung werden im Internet ständig Klatsch und aus dem Zusammenhang gerissene Fakten verbreitet, um bestimmte Politiker*innen zu diskreditieren. Die mangelnde Transparenz seitens der Liberalen schafft ein günstiges Umfeld für die Verbreitung von Gerüchten und negativer Öffentlichkeit. Darüber hinaus unterstützt das Regime aktiv Politiker*innen der Opposition, die sich dafür einsetzen, die Autorität der liberalen Führung zu untergraben. Diese Rolle haben Olga Karach und Igor Makar gespielt, die vor allem durch die aktive Weiterverbreitung ihrer Ideen durch verschiedene Trollarmeen in Russland und Belarus weithin bekannt wurden.

Heute ist die liberale Opposition extrem schwach. Obwohl Hunderttausende die Kanäle von Tichanowskaja und anderen Oppositionspolitiker*innen und Blogger*innen abonnieren, ist ihre Fähigkeit, Menschen zu mobilisieren, auf einem extrem niedrigen Niveau. Die Aufrufe, im späten Winter und im Frühjahr auf die Straße zu gehen, konnten die Menschen nicht einmal für kleine Straßenproteste mobilisieren.

Ein Transparent mit einem Slogan aus einem alten Anarcho-Punk-Song, auf dem zu lesen ist: „Autorität ist aus schwarzem Gummi“.

Anarchist*innen in der Protestbewegung

Die anarchistische Bewegung ging den Beginn des Wahlkampfes ohne viel Energie an. Versuche, eine gemeinsame Plattform zu schaffen, um verschiedene Gruppen zu mobilisieren, scheiterten bereits im Mai 2020. Einige Anarchist*innen waren der Meinung, dass die “Wiederwahl“ kaum eine Möglichkeit bieten könnten, die Diktatur zu stürzen. Andere wollten sich aus Zeitgründen, Coronavirus Problemen und anderen persönlichen Aspekten nicht an einer gemeinsamen Aktion beteiligen. Insgesamt hatte der größte Teil der anarchistischen Bewegung wenig Vorstellung, was im August passieren würde.

Obwohl keine allgemeinen Vereinbarungen getroffen wurden, begannen einige Anarchist*innen, sich an den politischen Prozessen rund um die Wahlen zu beteiligen. Das Pramen-Kollektiv und der Blogger Mikalai Diadok waren in den sozialen Netzwerken aktiv. Ersteres rief im Juli zu einem Boykott der Wahlveranstaltung und einer Protestmobilisierung am 9. August auf. Diadok seinerseits war während des gesamten Wahlkampfes aktiv und berichtete über die Situation rund um die Proteste und die Politik der Kandidat*innen.

Einige Bezugsgruppen arbeiteten auf der Straße: in Minsk und anderen Städten wurden Flugblätter und Aufkleber verteilt, die zum Boykott aufriefen.

Eine Gruppe in Baranawitschy, die sich aktiv an der Organisation von Kundgebungen in der Stadt beteiligte, verdient besondere Aufmerksamkeit. Die Gruppe stellte Technik zur Verfügung und organisierte so ein offenes Mikrofon für alle Demonstrant*innen. Einer der bekannten Anarchisten der Stadt trat aktiv auf den Kundgebungen mit anarchistischer Agenda auf und ermutigte die Menschen, nicht nur gegen Lukaschenko, sondern gegen Autoritarismus im Allgemeinen zu sprechen.

Vor der Wahl hatten anarchistische Informationsplattformen wenig Sichtbarkeit, abgesehen von Mikalai Diadok´s Blog. Nach den Wahlen änderte sich diese Situation völlig. Durch die Teilnahme von Anarchist*innen an den Protesten interessierten sich viele Menschen für anarchistische Ideen. Eine kleine Mediengruppe war in der Lage, viele große Plattformen auszustechen, wenn es darum ging, die Informationsagenda online und auf der Straße zu bestimmen. Aber trotz dieser Ausweitung des medialen Einflusses waren Anarchist*innen nicht in der Lage, ihren Einfluss zu nutzen, um das Format der weiteren Aktionen zu bestimmen; wir wurden von den liberalen Sonntags-Aktionsplanungsgruppen ausgeschlossen, trotz zahlreicher Versuche, in diese geschlossenen Club zu gelangen. Gleichzeitig war den meisten Anarchist*innen klar, dass wir, wenn wir auf eigene Faust zu Aktionen aufriefen, mit weitaus schwerwiegenderen Repressionen konfrontiert sein würden, als sie die friedlichen Wochenenddemonstrationen erfuhren.

In einem Versuch, die Forderungen der Bewegung zu konsolidieren, versuchten einige Anarchist*innen, die folgenden Ziele für den Protest durchzusetzen: 1.) Absetzung von Lukaschenko und des Parlaments. 2.) Freilassung aller politischen Gefangenen und Einstellung aller Strafverfahren gegen Demonstrant}innen. 3.) Entlassung der Bereitschaftspolizei und aller Organisationen, die für die Gewalt gegen die Demonstrant}innen verantwortlich sind. 4.) Direkte Demokratie 5.) Wiedereinstellung aller entlassenen Arbeiter*innen.

 

Nach den Wahlen konnten Anarchist*innen nicht nur in Minsk, sondern auch in einigen anderen Städten des Landes Widerstand leisten. Organisierte Bezugsgruppen beteiligten sich sowohl an Auseinandersetzungen mit der Bereitschaftspolizei und internen Truppen als auch an der Errichtung von Barrikaden in verschiedenen Teilen von Minsk. Als sich jedoch die Protesttaktik änderte und die Zahl der Teilnehmer*innen zunahm, wurden die Anarchist*innen von der Masse der friedlichen Demonstranten aufgesogen.

In den ersten Tagen nach den Zusammenstößen und während der ersten Sonntagsdemos hatten einige anarchistische Aktivist*innen mehr Angst vor negativen Reaktion von anderen Demonstrant*innen, als vor der Gewalt der Polizei. Organisierte Gruppen friedlicher Demonstrant*innen brachten Videos und Fotos von vermeintlichen „Provokateur*innen“ in Umlauf. Dies führte dazu, dass viele der Demonstrant*innen, die in den ersten Tagen aktiv gewesen waren, nicht mehr an nachfolgenden Demonstrationen teilnahmen.

Es dauerte mehrere Wochen, um die Ängste vor einem möglichen Konflikt innerhalb der Proteste zu überwinden, was als verpasste Gelegenheit für eine revolutionäre anarchistische Agenda betrachtet werden könnte. Einige Bezugsgruppen führten an Sonntagen Agitationsaktionen durch und nahmen an den Wochentagen an kleinen Kundgebungen teil. Als die Repression eskalierte, wurden Anarchist*innen wieder zu willkommenen Gästen bei allen Kundgebungen und waren Trendsetter in Sicherheitskultur. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte die Repression bereits viele Aktivist*innen getroffen.

Insgesamt war die anarchistische Bewegung nicht in der Lage, sich während der Proteste zu einer effektiven Kraft zu vereinigen. Viele Monate lang nahmen einzelne Gruppen von Anarchist*innen an den Protesten teil, aber der so genannte schwarze Block war nie in der Lage, mehr als 30 Leute zu versammeln. Dafür gab es mehrere Gründe:

  • Das staatliche Vorgehen gegen die anarchistische Bewegung im Jahr 2017 hatte Auswirkungen auf die Bereitschaft, in einem großen Block an liberalen Demonstrationen teilzunehmen. Damals wurden allein in Minsk etwa 50 Anarchist*innen während der Proteste gegen das „Parasitentum“-Gesetz festgenommen. Einige Gefährt*innen konnten die Repression jener Tage nicht überwinden.
  • Mangel an langfristiger aktivistischer Zusammenarbeit. Einige Bezugsgruppen hatten zuvor noch nie zusammengearbeitet. Einige Bezugsgruppen bildeten sich aus Leuten, die vorher nicht an gemeinsamen Aktionen teilgenommen hatten. Diese Art von spontaner Organisierung sind für eine kurze Zeit geeignet, aber es kann extrem schwierig sein, unter ständigem Druck von außen für eine lange Zeit zusammenzubleiben. Viele der Anarchist*innen, die an den Protesten vom 9. bis 11. August teilnahmen, waren nicht Teil von organisierten Kollektiven und arbeiteten kaum innerhalb einer Art allgemeiner koordinierter Strategie.
  • Direkte Repression bei den Aufmärschen selbst. Viele Menschen wollten nicht kompromittiert werden oder Strafanzeigen wegen der Teilnahme an friedlichen Demos erhalten. Die Strategie des KGB und der GUBOPIK[10], der Polizeibehörde, die sich angeblich auf die Bekämpfung des organisierten Verbrechens konzentrierte, war für viele unverständlich, da sich die Repression gegen die Aktivist*innen um mehrere Wochen verzögerte.
  • Die anarchistische Bewegung war aufgrund ungelöster Konflikte tief zersplittert. Dies wirkte sich auch auf die mögliche Zusammenarbeit zwischen einigen Kollektiven aus.
  • Leute aus der traditionell anarchistischen Punk-Subkultur verzichteten weitgehend darauf, sich mit Anarchist*innen an den Protesten zu beteiligen, wegen der relativ hohen Repression gegen Anarchist*innen.
  • Viele ältere anarchistische Aktivist*innen verzichteten ohne Erklärung auf die Teilnahme an gemeinsamen Reihen oder Blöcken. Eine Reihe dieser Leute nahm an friedlichen Protesten auf individueller Basis oder mit Freund*innen teil.

Dies sind nur einige der Faktoren, die zur geringen Mobilisierung im anarchistischen Block beitrugen.

Fußballfans mit antirassistischen Ansichten weigerten sich, mit Anarchist*innen zusammenzuarbeiten, weil die Wahrscheinlichkeit von Repressalien der GUBOPIK und des KGB gegen Anarchist*innen hoch war. Infolgedessen nahmen auch Antirassist*innen einzeln und in kleinen Gruppen an den Protesten teil.

Unter den Anarchist*innen bildete sich auch eine Gruppe von Partisan*innen heraus, die aus erfahrenen Aktivisten bestand. Alinevich und Dubovsky überquerten illegal die Grenze zwischen Belarus und der Ukraine, trafen sich mit Romanov und Rezanovich[11] und setzten ihren aktiven Kampf gegen das Regime über mehrere Wochen fort, wobei sie angeblich mehrere Brandanschläge verübten. Obwohl diese Gruppe verhaftet wurde, als sie versuchte, sich in die Ukraine zurückzuziehen, wurde allein die Tatsache ihrer Existenz wichtig, um das Bild der Anarchist*innen als entschlossene Feinde des Regimes aufrechtzuerhalten. Selbst für viele Liberale waren die anarchistischen Partisanen ein wichtiges Beispiel für organisierten Widerstand.

Anarchistische Partisanen von links: Dzmitriy Rezanovich, Dzmitriy Dubovskiy, Ihar Alinevich, Siarhei Ramanau.

Die Repressionen gegen Anarchist*innen begannen schon vor den Wahlen. Viele bekannte Aktivist*innen waren gezwungen, in den Untergrund zu gehen. Zum Beispiel tauchte Mikalai Diadok von Juli bis November unter, bis er infolge einer Sonderaktion der GUBOPIK verhaftet wurde.

Es ist auch erwähnenswert, dass die Rückkehr zur Normalität in der anarchistischen Bewegung relativ schnell erfolgte. Eine Woche nach den Wahlen kehrten mehr als 40% der Mitglieder der Bewegung zur Arbeit und in den Alltag zurück. Das Engagement in der politischen Organisation nahm deutlich ab, als der Konflikt deeskalierte. Viele Anarchist*innen glaubten das liberale Narrativ vom Sieg über die Diktatur. Vor diesem Hintergrund war der mangelnde Wunsch, auf die Barrikaden zu gehen, verständlich: Viele glaubten, dass Lukaschenko auch ohne ihre Beteiligung nicht überleben würde.

Das war ein Fehler, der fast die gesamte Bewegung gekostet hat: Heute sitzen mindestens zehn Anarchist*innen und fünf weitere Antifaschist*innen hinter Gittern. Viele Gefährt*innen haben Belarus auf der Suche nach einem sicheren Hafen für ihre weitere politische Arbeit verlassen. Einige erlebten Folter und Gewalt. Im Wesentlichen wurde die belarusische anarchistische Bewegung durch Repression zerschlagen. Es gibt noch kleine Gruppen im Land, die sich weiterhin gegen die Diktatur organisieren, aber das Ausmaß des staatlichen Drucks lässt nicht einmal eine grundlegende Agitation zu. Die Namen vieler Aktivist*innen sind bekannt, und im Falle von anarchistischen Aktionen werden die Bekannten recht schnell verhaftet. Die Strukturen der anarchistischen Solidarität funktionieren weiterhin: ABC-Belarus ist damit beschäftigt, Gefangene, unterdrückte Aktivist*innen und ihre Familien zu unterstützen.

In der momentanen Situation werden sich die verbleibenden Anarchist*innen eher darauf konzentrieren, die Repression zu überleben, als sich in einen politischen Kampf zu stürzen. Die Aussichten für die anarchistische Bewegung sind unklar, und es ist schwierig, sich weitere Aktivität unter den gegenwärtigen Bedingungen vorzustellen. Das große Interesse der GUBOPIK und des KGB an den Aktivist*innen erschwert jeden Kontakt mit Außenstehenden, die zusätzliche Probleme aufgrund von Verbindungen zu Anarchist*innen befürchten. Und während Informationsportale wie Pramen noch für einen Teil der belarussischen Gesellschaft von Interesse sind, nimmt dieses Interesse weiter ab.

Anarchistischer Block bei einer Demonstration. Auf dem Transparent steht „Solidarität ist unsere Waffe“.

Lukaschenko, Putin und die Europäische Union

Die Beziehung zwischen dem einen und dem anderen Diktator war schon immer kompliziert. Beginnend mit der Aufhebung der Sanktionen im Jahr 2015 begann Lukaschenko, sich allmählich von Putin zu distanzieren. Seine Reden bezogen sich zunehmend auf ein unabhängiges Belarus. Tatsächlich verachtet Putin Lukaschenko und weiß sehr wohl, dass er in Belarus für politische Spielchen benutzt wird. Das belarussische Regime muss für die Unterstützung Russlands mit politischer und wirtschaftlicher Integration bezahlen. Lukaschenko sträubt sich gegen diesen Prozess, weil er weiß, dass die Integration früher oder später zum Verlust seiner Macht führen wird.

Die Annäherung in den Beziehungen zur Europäischen Union hat dem Diktator die Möglichkeit gegeben, Putins politischen Einfluss zu begrenzen. Kredite von westlichen „Partnern“ und Verträge mit großen Firmen könnten die Abhängigkeit des Lukaschenko-Regimes von Russland potenziell verringern. Es half auch, dass die EU keinen Druck mehr auf die politischen Prozesse im Land ausübte. Für viele europäische Politiker*innen war Lukaschenkos stabiler Autoritarismus attraktiver als die Risiken einer Wiederholung des ukrainischen Szenarios mit regierungsfeindlichen Protesten und einer anschließenden Invasion durch Putin.

Bis August 2020 bediente sich Lukaschenko einer recht aggressiven Rhetorik gegenüber Russland. Der Skandal um die russischen Wagner-Soldaten[12], die „versuchten“, einen Militärputsch in Belarus zu organisieren, zeigte Lukaschenkos Wunsch, die Verantwortung für jegliche politische Instabilität im Land auf Putins Schultern zu schieben – eine Rolle, die zuvor der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten vorbehalten war. Der Diktator selbst hatte wahrscheinlich gehofft, dass die Proteste klein ausfallen würden und dass er danach zu Verhandlungen mit europäischen Politiker*innen zurückkehren könnte.

Die gewaltsame Auflösung der Proteste vom 9. bis 11. August und der aktive Widerstand der Bevölkerung in verschiedenen Städten veränderte das Kräfteverhältnis erheblich. Der liberale Westen konnte eine solche Gesetzlosigkeit nicht tolerieren, da sich dies negativ auf die Popularität der regierenden politischen Parteien hätte auswirken können. Doch trotz der Morde an Demonstrant*innen in den ersten Wochen war die Reaktion des Westens auf die Ereignisse in Belarus recht zurückhaltend. Es dauerte einige Zeit, bis die Berichte über Folter, Vergewaltigung und Mord die politischen Eliten dazu zwangen, sich zur Unterstützung der Demonstrant*innen zu bekennen und Lukaschenkos Vorgehen zu verurteilen. Für europäische Politiker*innen bedeutete dies das Ende der „Zusammenarbeit“ zwischen Lukaschenko und der EU und das Risiko einer weiteren Annäherung zwischen Russland und Belarus.

Auch Putins Reaktion auf die Proteste in Belarus war in den ersten Wochen sehr kalt. Zunächst war unklar, wer in dieser ganzen Angelegenheit gewinnen würde, und die russische Unterstützung für Lukaschenko im Falle seiner Niederlage würde einen Anstieg der antirussischen Gefühle in der belarussischen Gesellschaft provozieren.

Putin konnte zu Beginn mit der Donbass-Geschichte[13] zwar seine Popularität für eine Weile steigern, aber auf lange Sicht erwies sie sich als eine gescheiterte Operation, die ihn zu viele politische Punkte kostete. Obwohl Russlands Operation in Syrien geopolitisch wichtig ist, ist Assad im Gesamtgefüge weiterhin extrem instabil. In dieser Situation würde eine russische Aggression gegen das Land wieder einmal enormes politisches Kapital kosten.

Als es für russische politische Analyst*innen mehr oder weniger klar wurde, dass Lukaschenko die Kontrolle über die Situation zurückgewann, begannen persönliche Treffen zwischen den beiden Diktatoren. Kredite begannen zu fließen, von denen die meisten dazu dienten, die bestehenden Schulden des Regimes zu bezahlen.

Jetzt haben sich die Machtverhältnisse für Lukaschenko dramatisch verändert. Konnte er 2019 noch zwischen dem Westen und dem Osten navigieren, hat er jetzt keine andere Wahl, als mit Putin zusammenzuarbeiten. Die geringschätzige Haltung des russischen Imperators gegenüber dem belarussischen Kartoffelbaron bleibt an der Oberfläche. Viele Analysten weisen darauf hin, dass Russlands Ziel in dieser Phase darin besteht, seine Bemühungen um die Integration von Belarus in Russland fortzusetzen.[14] Die neue Verfassung könnte die Grundlage für genau das sein.

Es ist schwierig, die Beziehung zwischen Putin und Lukaschenko vorherzusagen, da die meisten Vereinbarungen hinter verschlossenen Türen stattfinden. Obwohl Lukaschenko den Preis für die Unterstützung von Wladimir Wladimirowitsch nicht nennt, ist jedem klar, dass es nicht möglich ist, Putin mit Wassermelonen und Kartoffeln aus seinem Garten zu bestechen.

In der ersten Protestnacht kommt es in Brest zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Das technokratische Regime von Alexander Lukaschenko

Viele Menschen denken fälschlicherweise, dass das belarussische Regime, an dessen Spitze der ehemalige Vorsitzende einer Kolchose (verstaatlichter kollektivierter Landwirtschaftsbetrieb) steht, eine Gruppe ehemaliger sowjetischer Funktionäre ist, die nur wissen, wie man Polizisten mit Stöcken gegen ihre Gegner*innen einsetzt, um sie verschwinden zu lassen.

Diese Wahrnehmung ist falsch: Belarus ist heute ein relativ fortschrittliches Technologieland. Zahlreiche private IT-Unternehmen erbringen technische Dienstleistungen für eine Reihe großer westlicher Firmen, darunter Microsoft, Google und viele andere. Innerhalb des Staatsapparates verstehen Leute, die im operativen und analytischen Zentrum unter dem Präsidenten von Belarus arbeiten, ein wenig mehr von Technologie als Lukaschenko selbst.

Die belarussische Polizei reist ständig zu Messen, die von privaten Firmen für Strafverfolgungsbehörden verschiedener Länder veranstaltet werden, um Geräte zur Überwachung und Repression von Zivilist*innen zu erwerben. Zum Beispiel hat das italienische Hacking Team in internen Dokumenten aus dem Jahr 2015 festgestellt, dass ihr Hacking-Service für staatliche Akteure interessierte „Kunden“ in Belarus hat. Das bedeutet, dass dort, wo dem belarussischen Staat die Technologie zur Unterdrückung seiner Bürger*innen fehlt, private Firmen dabei helfen können. Das Lukaschenko-Regime bereitete sich gut auf die Proteste 2020 vor und kaufte kanadische Wasserwerfer, tschechisches Tränengas, Elektroschock-Schilde und viele andere technologische Innovationen zur Kontrolle von Menschenmengen.

Das Regime arbeitet seit mehreren Jahren mit der privaten belarussischen Firma Synesis zusammen, die Gesichtserkennungs-technologie entwickelt; nur wenige Tage nach Beginn der Proteste wurde bekannt, dass die Polizei automatische Gesichtserkennungs-systeme einsetzt, um Demonstrant*innen zu identifizieren und Aktivist*innen zu lokalisieren. Ausdrucke aus dem Synesis-System wurden bei den Prozessen gegen einige Demonstrant*innen verwendet; ihre Bilder und Profile aus dem Programm lagen in den Gerichtsakten.

Die belarusische Polizei hat diese schwarzen Schutzschilde mit Elektroschockfunktion aus Russland bekommen.

Geräte der amerikanischen Firma Sandvine, Inc. wurden eingesetzt, um den Zugang zum Internet zu beschränken. Die israelische Celebrite-Ausrüstung wurde verwendet, um mobile Geräte zu hacken. Experten aus China kamen, um das belarussische Regime bei der Zensur und Überwachung von Online-Aktivitäten zu unterstützen.

Das Regime nutzte aktiv das Klonen von SIM-Karten, um sich in Telegram-Konten einzuhacken. Der De-Anonymisierungs-Bug in Telegram ermöglichte es, Listen von Teilnehmenden an bestimmten Telegram-Chats zu erstellen und anschließend bestimmte Kommentare mit bestimmten Personen zu verknüpfen und Strafverfahren gegen sie einzuleiten. Datenanalysten innerhalb der GUBOPIK und des KGB waren in der Lage, hochgeladenes Filmmaterial mit einzelnen IP-Adressen zu verknüpfen und auf diese Weise die Aktivist*innen von Nachbarschaftsinitiativen zu verfolgen.

Zum ersten Mal stand die belarussische Gesellschaft einem hinterlistigen und gebildeten Gegner gegenüber – und wir sprechen nicht von Lukaschenko und seinen Söhnen. Eine riesige Anzahl von Menschen arbeitet für das Regime, sie haben die Entscheidung getroffen, der Diktatur um ihrer eigenen Bequemlichkeit willen zu dienen. Diese Menschen werden nicht von ihrer ideologischen Liebe zu Lukaschenko angetrieben, sondern vom Geld, und sie sind bereit, jede technische Aufgabe auszuführen, ohne die moralischen Konsequenzen dieser Wahl zu bedenken.

Wir haben gesehen, dass zahlreiche technische Lösungen auf dem westlichen Markt sehr schnell für autoritäre Regime verfügbar werden. Technologien wie die automatische Gesichtserkennung haben eine extrem wichtige Rolle bei der Bekämpfung demokratischer Bewegungen und der Stabilisierung von Diktaturen gespielt. Das Wachstum des Überwachungs- und Kontrollmarktes wird jeden Befreiungsversuch nur noch schwieriger machen.

Ein*e Demonstrant*in mit einem Schild mit der Aufschrift „Proud to be an anarchist, in solidarity with detained anarchists“.

Gewaltlosigkeit und Untätigkeit

Vor dem Juni 2020 waren die Proteste in Belarus weitgehend gewaltfrei. Mit Ausnahme von Anarchist*innen rief keine*r zum gewaltsamen Widerstand gegen die Repression auf. Diese Situation änderte sich im Laufe des Sommers sehr schnell. Die ersten Scharmützel mit der belarussischen Polizei fanden in kleinen Städten statt, als Versuche, Demonstrant*innen zu verhaften, Widerstand provozierten. Diese Aktionen waren spontan und äußerst effektiv; das belarussische Regime ist nicht an eine aktive Bevölkerung gewöhnt, und in den ersten Wochen sorgte jeder Widerstand für perplexe Peiniger.

Der Angriff auf die Bereitschaftspolizei in Minsk im Juli wurde zu einem Wendepunkt für viele Demonstrant*innen. Es zeigte sich, dass die vermeintlich unbesiegbare Spezialeinheit der Polizei in einer Konfliktsituation sehr schnell zusammenbricht. Seit Generationen versuchte die belarussische Bereitschaftspolizei, sich als Kämpfer zu präsentieren, die in den schwierigsten Situationen arbeiten und Krawalle beenden können. Doch zahlreiche Schulungen halfen den jungen Lukaschisten, mit eingeschlagenen Köpfen nicht, den Demonstrant*innen auf den Straßen entgegenzutreten. Die Flucht dieser Bereitschaftspolizisten veränderte das Kräfteverhältnis auf den Straßen, da die Menschen erkannten, dass sie dem Repressionsapparat erfolgreich entgegentreten konnten.

Nach diesen Zusammenstößen gab es viele kleine Kundgebungen und Demos. Viele Gruppen und einfache Bürger*innen bereiteten sich auf das Ereignis vor, den Wahltag. Obwohl einige noch auf eine friedliche Lösung des Konflikts hofften, wehrten sich die meisten Menschen am Wahltag immer wieder gegen die Cops im ganzen Land. An manchen Orten konnte sich die Bevölkerung für eine Nacht komplett von der Diktatur befreien. In Minsk und anderen Großstädten konnten die Peiniger zwar bis zum Morgen die Straßen „säubern“, aber die Bewegung nicht aufhalten. Die folgenden nächtlichen Proteste zeigten die Wirksamkeit des aktiven Widerstands und der Dezentralisierung.

Das Infragestellen der Autorität des Innenministeriums setzte sich fort und breitete sich aus.

In einem verzweifelten Versuch, die Proteste zu verhindern, begann die Polizei, jede*n zu verhaften, der wie ein*e Demonstrant*in aussah. Tagsüber versuchten Polizisten in Polizeiwagen, Bussen und Krankenwagen den Druck zu verstärken. Wahllose Verhaftungen erhöhten die Zahl der Menschen, die von der politischen Repression im Land betroffen waren; zum Beispiel führte diese Taktik zur Verhaftung vieler Arbeiter*innen, die von der Nachtschicht zurückkehrten. Dies wiederum erhöhte das Level der Konfrontation in den Fabriken und wurde zu einem der Katalysatoren der Streikbewegung.

Für einige Demonstrant*innen aus dem liberalen Lager war das Level der Konfrontation zu hoch. Die Gewalt der Behörden führte in nur wenigen Tagen zum Tod mehrerer Demonstrant*innen, zu Hunderten Verletzten und zur Folter Tausender in den Zellen der Polizei und in Untersuchungshaftanstalten. Für die relativ friedliche Bevölkerung des Landes kam diese Taktik überraschend. Als Reaktion auf die Gewalt begannen am vierten Tag der Nachwahlproteste friedliche Demonstrationen. Hunderte meist weiß gekleideten Frauen mit roten Blumen versammelten sich in der Innenstadt von Minsk und forderten ein Ende der Polizeigewalt, die Freilassung aller Gefangenen und generelle Versammlungsfreiheit. Zunächst unterdrückten die Behörden die Frauenmärsche nicht. Viele liberale Nachrichtenplattformen propagierten den Pazifismus. Zu diesem Zeitpunkt war das Hauptanliegen der Proteste, die Gewalt zu beenden. Am ersten Sonntag nach den Wahlen gingen hunderttausende Menschen in Städten im ganzen Land auf die Straße. So etwas hatte es in Belarus noch nie gegeben. An diesem Tag schien es, als ob die Diktatur verloren hätte und wir endlich frei atmen könnten.

Der liberale Teil des Protests empfand diesen Tag als den Anfang vom Ende für Lukaschenko. Nach einer so großen Demonstration musste der Diktator sicherlich gehen. Der Mangel an formulierten Zielen war ein Problem, das die Demonstrant*innen nicht lösen konnten. In einigen wenigen Fällen gelang es, die Behörden zur Freilassung von Gefangenen zu zwingen, indem vor den Knästen demonstriert wurde. In Minsk führte eine Demo von mehreren tausend Menschen zu einem Konflikt mit den „Freiwilligen“, welche die Unterstützung der Inhaftierten organisiert hatten.[15] Sie bildeten eine zusätzliche „Verteidigungslinie“ um das Gefängnis gegen die Demonstrant*innen – der Grund dafür waren Vereinbarungen zwischen den Freiwilligen und der Verwaltung des Gefängnisses, die nach Ansicht der Freiwilligen im Falle von Versuchen, auf die Freilassung von Inhaftierten zu drängen, hätten gekündigt werden können. Die Demonstrationen selbst verwandelten sich oft von Protestaktionen in Massenversammlungen nur um der Versammlungen willen.

Versuche von verschiedenen Telegram-Kanälen, ein Ziel für einen bestimmten Protesttag festzulegen, scheiterten weitgehend; nur ein kleiner Teil der Demonstrant*innen war bereit, aktiv zu werden. Dabei ging es nicht einmal um direkte Zusammenstöße mit der Bereitschaftspolizei, sondern um verschiedene Formen des gewaltfreien Widerstands.

Friedlicher Protest wurde schnell zu einem Dogma, und proaktive Aktionen jeglicher Art wurden als Provokationen empfunden. In kurzer Zeit verlagerten sich die belarussischen Proteste von Zusammenstößen mit den Behörden zu völliger Passivität. Sogar Versuche, über Solidaritätsketten Straßen zu blockieren, wurden von vielen als Provokation empfunden, während das Stehenbleiben vieler tausend Demonstrant*innen an roten Ampeln als Beispiel für eine hohe Protest- und Ordnungskultur in der belarussischen Gesellschaft interpretiert wurde.

Diese Art der Deeskalation ohne Druck auf das Regime schuf für die Behörden die Möglichkeit, eine neue Strategie zur Unterdrückung der Proteste zu entwickeln. Während die Öffentlichkeit von der Agenda „Sturz der Diktatur – kein Sprint, sondern ein Marathon“ dominiert wurde, erlaubte die relative Ruhe auf den Straßen der Hauptstadt den Cops, die bereits erwähnte Strategie der schrittweisen Repression anzuwenden.

Die friedlichen Demonstrant*innen in Minsk realisierten diese Entwicklung erst, als die Bewegung in anderen Teilen des Landes bereits zerschlagen war. Verspätete Versuche, nach ein paar Monaten mit Sonntagsdemos direkte Aktionen durchzuführen, brachten keine ernsthaften Ergebnisse; viele der Aktivist*innen, die bereit gewesen wären, den Konflikt zu eskalieren, waren bereits im Gefängnis oder im Ausland. Die Taktik, Gefangene zu befreien und Polizisten anzugreifen, die in eine Menge von Demonstrant*innen einzudringen versuchten, wurde noch einige Wochen lang fortgesetzt, aber sie diente in erster Linie der Verteidigung der Demonstrationen, die immer noch keine konkreten Ziele hatten.

Es ist erwähnenswert, dass es neben den großen Protesten in vielen Städten weiterhin einzelne Sabotageakte gab: Menschen blockierten Bahngleise, zerstörten Technik und so weiter. Dieses Format erreichte jedoch keine kritische Masse, die nötig gewesen wäre, um dem Regime ernsthaften Schaden zuzufügen.

Die Entscheidung für den friedlichen Protest traf die Bewegung sehr hart. Zwar konnten sich landesweit Hunderttausende um den Preis der Deeskalation dem Aufstand gegen Lukaschenko anschließen, doch die Spaltung zwischen dem radikalen und dem friedlichen Lager spielte der Diktatur in die Hände. Die belarussische Gesellschaft befand sich in einer Situation, die vielen westlichen Demonstrant*innen vertraut ist, in der Pazifist*innen versuchen, Anhänger*innen der direkten Aktion aus der Bewegung auszuschließen und damit am Ende den Gegner*innen der Bewegung in die Hände zu spielen.

Die Agenda der friedlichen Proteste wurde sowohl auf der Straße als auch über die sozialen Medien durchgesetzt. Viele Menschen, die nach den radikalen Demonstrationen der ersten Tage auf die Straße gingen, um die Gewalt zu stoppen, sahen in jeder Aktion eine mögliche Provokation durch das Regime, einen Vorwand für eine weitere Welle der Repression. Doch diese Annahme widersprach jeglicher Logik: Das im August 2020 geschwächte Lukaschenko-Regime wollte die Menschen nicht zur Gewalt provozieren, um den Konflikt weiter zu eskalieren, denn eine solche Strategie würde die Situation nur destabilisieren und es extrem schwierig machen, die Kontrolle wiederzuerlangen. Das Regime verstand dies nach den ersten Tagen der Wahl.

Anarchist*innen und andere radikale Gruppen wiederum sollten keine Angst vor einer Destabilisierung des Protests haben, falls es zu Zusammenstößen mit der Bereitschaftspolizei und anderen Polizist*innen kommt. Es ist klar, je mehr aktiver Widerstand auf den Straßen stattfindet, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Regime Fehler macht oder sogar zusammenbricht. Aktive Taktiken sind notwendig, auch wenn die friedliche Mehrheit gegen solche Aktionen ist. Die liberale Informationsagenda mag solche Aktionen als Provokationen darstellen, aber wir sollten nicht vergessen, dass unser Ziel bei den Protesten nicht die Unterstützung des liberalen Lagers ist, sondern der Sturz der Diktatur, auch wenn die Zusammenarbeit mit liberalen Verbündeten wichtig ist.

Anarchist*innen bei einer der kleinen Nachbarschaftsdemonstrationen. Diese dauern normalerweise 10-15 Minuten, um Verhaftungen zu vermeiden.

Schlussfolgerungen

Die monatelangen Proteste haben die Illusion der demokratischen Opposition, dass ein großer Marsch alles ändern wird, völlig zerschlagen. Einfach durch die Straßen des Landes zu marschieren, ohne Ziele zu haben, kann dem Regime keinen Schaden zufügen. Nur eine Synthese aus verschiedenen Taktiken, von friedlichen Demonstrationen bis hin zu offenen Zusammenstößen mit dem Regime und der Einnahme strategischer Punkte, kann zum Sturz der Diktatur führen. Um dies zu erreichen, muss jedes Glied unserer Rebellion solidarisch mit dem Rest der Bewegung handeln. Die Angriffe aus dem friedlichen Lager gegen die sogenannten Radikalen müssen aufhören, ebenso wie die Verurteilungen der friedlichen Demonstrant*innen durch die aktivere Bevölkerung. Nur gemeinsam können wir eine Kraft schaffen, die in der Lage ist, Lukaschenko und seine Unterstützer*innen zu vernichten. Es sollte verstanden werden, dass friedliche Proteste auch aktive Formen des Widerstands beinhalten können, wie Straßenblockaden, Mahnwachen und Aktionen an verschiedenen strategischen Punkten, Streiks und so weiter, die alle das Regime untergraben und zusätzlichen Druck erzeugen. Radikale Aktionen dürfen sich nicht darauf beschränken, eine Demonstration zu verteidigen oder die Cops mit Steinen zu bewerfen. Die Struktur der Staatsmacht ist viel komplexer als die Absperrungen der Bereitschaftspolizei; Angriffe auf diese Strukturen können auf verschiedene Weise erfolgen, nicht nur als Teil von großen Demonstrationen.

Wir sollten uns nicht nur auf die großen Medienkanäle verlassen, um Proteste zu koordinieren. Frauenmärsche wurden zunächst ohne große Unterstützung organisiert, aber dank ihres Formats wurden sie unter Tausenden von Demonstrant*innen populär. Anarchist*innen und Antifaschist*innen sollten versuchen, sich außerhalb ihres kleinen Kreises von Aktivist*innen zu organisieren und die Bequemlichkeit überwinden, um Proteststrategien zu entwickeln, die mit unseren Prinzipien, Idealen und Erfahrungen mit großen Protesten übereinstimmen.

Der Aufstand hat die Wirksamkeit dezentraler Protesttaktiken gezeigt. Es ist den organisatorischen Anstrengungen in vielen Regionen zu verdanken, dass wir der Zerstörung der Diktatur so nahe kommen konnten. Traditionelle zentralisierte Proteste in der Hauptstadt sind viel leichter zu isolieren und auszulöschen als zahlreiche Punkte des Widerstands im ganzen Land. Wir müssen weiterhin nach Verbündeten in den Kleinstädten suchen, die bereit sind, nicht nur die feindlichen Kräfte zurückzudrängen, sondern auch, wenn nötig, die Macht in den Städten zu übernehmen und die Regionen jenseits der Hauptstadt vollständig vom Diktator zu befreien, sowohl durch Guerillamethoden als auch durch zivilen Ungehorsam.

Die Effektivität und Bedeutung der Dezentralisierung machte den Anarchismus bei vielen Menschen in Belraus bekannt – nicht als Chaos und Unordnung auf den Straßen, sondern als organisierte Bewegung mit politischen Zielen, die zu einer vollwertigen Alternative zur staatlichen Zentralisierung wurde. Obwohl die Ideen des Antikapitalismus in der belarussischen Gesellschaft fremd bleiben, sind der Widerstand gegen die Zentralisierung sowie horizontale Modelle der Machtverteilung von großem Interesse. Sollte Lukaschenko besiegt werden, machen wir uns keine Illusionen über die Möglichkeit der Schaffung einer anarchistischen Republik oder Föderation innerhalb von Belarus, aber der Einfluss der Anarchist*innen auf liberale Kreise und die Gesellschaft könnte zu einem wichtigen und schnellen Zusammenbruch der Zentralisierung des Staatsapparates führen.

Seit Generationen gibt es in den Köpfen der Menschen ein bestimmtes Stereotyp: die friedlichen Belaruss*innen, die in der Lage sind, sich an jede Situation anzupassen und jede Ungerechtigkeit zu akzeptieren. Dieses Stereotyp wurde von der belarussischen Diktatur und auch von vielen Oppositionspolitiker*innen befeuert, die versuchten, die Diktatur „friedlich“ zu stürzen. Witze über tolerante Belaruss*innen verbreiteten sich in ganz Osteuropa.

Aber gemeinsam haben wir es geschafft, dieses Stereotyp zu überwinden und der ganzen Welt zu zeigen, dass sich die belarussische Bevölkerung nicht weniger nach Freiheit sehnt als alle anderen – und dass wir bereit sind, entschlossen zu handeln, um sie zu gewinnen. Der Aufstand von 2020 brach das Bild des unterwürfigen Lakaien, der bereit ist, jeden Spott und jede Demütigung zu schlucken. Das Wachstum der gesellschaftlichen Macht war ein wichtiger Faktor auf unserem Weg zur Befreiung. Ja, wir konnten Lukaschenko im Sommer 2020 nicht stürzen, aber der Kampf gegen die Diktatur ist nicht verloren. Vor uns liegen lange Monate, in denen wir uns unserer eigenen Stärke bewusst werden und uns weiter für ein freies Belarus organisieren und rebellieren.

Sparen wir uns den Pessimismus für bessere Zeiten und kehren wir zurück zur Organisierungsarbeit und zur Vorbereitung auf neue Versuche, Lukaschenko zu stürzen. Die Diktatur wird fallen, und wir werden alles in unserer Macht stehende tun, um ihr die Beine zu brechen und endlich frei zu werden!

Ein Demonstrant ist nach seiner Inhaftierung wieder mit seinen Liebsten vereint. In den ersten sechs Monaten der Proteste wurden mehr als 35.000 Menschen zu Haftstrafen von 10-25 Tagen verurteilt.


Fussnoten:

1: Die belarussischen Wahlen werden manchmal „Wiederwahlen“ genannt, weil sie ein Spektakel sind, bei dem die Stimmen nicht einmal gezählt werden, sondern die Ergebnisse von oben veröffentlicht werden.

2: Ab Juli begannen zahlreiche Telegram-Kanäle und Nachrichtenplattformen den Begriff „Peiniger“ zu verwenden, um die Mitarbeiter des Innenministeriums/KGB (d.h. der Geheimpolizei) und der internen Truppen (eine halbmilitärische Organisation innerhalb des Innenministeriums) zu beschreiben.

3: „Interne Truppen“ bezeichnet eine halbmilitärische Organisation innerhalb des Innenministeriums, die hauptsächlich zur politischen Repression eingesetzt wird. Abgesehen von Offizieren werden diese Truppen aus wehrpflichtigen Soldaten rekrutiert.

4: https://www.youtube.com/watch?v=4m3DVE0JUec

5: Ist ein Tag ohne Lohnarbeit, der manchmal freiwillig, aber meistens vom Staat erzwungen, durchgeführt wird. Entstanden in der UdSSR als eine der Möglichkeiten, freie Arbeitskräfte für Infrastrukturarbeiten zu nutzen.

6: In 27 Jahren Diktatur griff Lukaschenko immer wieder auf die „Dezentralisierung“ der Macht zurück und schuf staatliche Institutionen, die die Macht an der Basis verteilen sollten. In Wirklichkeit waren diese Institutionen Fallen, um lokale Initiativen zu absorbieren und ihren Einfluss in der Gesellschaft zu zerstören. Abgesehen davon wurden die lokalen „Institutionen der Selbstverwaltung“ als Mittel benutzt, um Gelder von der Europäischen Union zu erhalten.

7: Ashurak was an activist of liberal opposition for many years. He was arrested on 19 September for participating in protests and in January 2021 sentenced to 5 years in prison. Ashurak was killed in prison by the regime in May_2021.

8: Roman Bondarenko war ein Aktivist, der an einer der ersten Nachbarschaftsversammlungen in Minsk beteiligt war. Er wurde vom Regime auf einem Platz mitten in der Nachbarschaft getötet, während Polizisten und Anhänger*innen des Regimes Fahnen und Protestkunst zerstörten. Seine letzten Worte im Nachbarschaftschat waren „Ich gehe raus“.

9: Alle politischen Kundgebungen und Demonstrationen sind in Belarus verboten. Während des Wahlzyklus gibt es jedoch einige zusätzliche Regeln, die es den Kandidat*innen erlauben, sich mit der Bevölkerung auf öffentlichen Plätzen zu treffen, ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Staates. Tichanowskajas Team nutzte dieses Schlupfloch, um auch ohne Beteiligung der Kandidatin offiziell zu politischen Kundgebungen aufzurufen, was es ermöglichte, Dutzende von politischen Versammlungen im ganzen Land abzuhalten.

10: Seit den Wahlen hat sich GUBOPIK [„Hauptabteilung für die Bekämpfung von organisiertem Verbrechen und Korruption“] hauptsächlich auf die politische Repression konzentriert. Die Einheit umfasst eine Unterabteilung, die sich auf die Bekämpfung von „Extremismus“ konzentriert.

11: Mehr Informationen über ihren Fall gibt es auf der Website vom Anarchist Black Cross Belarus – https://abc-belarus.org/?p=13308&lang=en

12: Wagner ist eine private Sicherheitsfirma aus Russland. Mehrere Dutzend Söldner von Wagner wurden im Juli 2020 in einem Resort in Belarus verhaftet und beschuldigt, Sabotageakte zum Sturz Lukaschenkos vorbereitet zu haben. Später wurden sie alle wieder freigelassen und es gab keine weiteren Konsequenzen. Viele glauben, dass der Diktator versuchte, Wagner zu benutzen, um die Aufmerksamkeit von den Protesten in Belarus abzulenken sowie um Unterstützung von der Europäischen Union zu erhalten, was jedoch nicht funktionierte.

13: Im April 2015 rebellierten prorussische Kräfte in der Region Donbas mit Unterstützung des russischen Militärs gegen die ukrainische Regierung. Ursprünglich hofften die Separatisten, ein Teil Russlands zu werden, was aber nie umgesetzt wurde. Stattdessen wurden über eine Million Menschen durch den Krieg vertrieben. Heute stehen die Volksrepublik Donezk und die Volksrepublik Luhansk immer noch unter der Kontrolle der russischen Streitkräfte.

14: Ende der 1990er Jahre unterzeichneten Lukaschenko und Boris Jelzin (damals Präsident Russlands) einen Unionsvertrag zwischen Belarus und Russland, der einen sogenannten „Unionsstaat“ schuf. Die Idee der russischen Regierung war es, Belarus Schritt für Schritt zu absorbieren. Das Projekt des Unionsstaates war nicht wirklich erfolgreich, aber Ende 2019 begann Putin, einen Fahrplan zur „Integration“ voranzutreiben und versuchte, so viel politischen Einfluss wie möglich zu gewinnen.

15: Nach der ersten Nacht der Proteste wurden über 1000 Menschen festgenommen und in verschiedenen Untersuchungsgefängnissen im ganzen Land untergebracht. In Minsk fand sich eine Gruppe von Freiwilligen zusammen, die sowohl die Angehörigen, die die Gefängnisse besuchten, als auch die aus dem Gefängnis entlassenen Personen unterstützten. Sie waren auch für die Veröffentlichung von Listen der Inhaftierten verantwortlich, da die Polizei sich weigerte, diese Informationen an die Öffentlichkeit oder an Angehörige weiterzugeben.

 



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